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nmz-archiv
nmz 2006/02 | Seite 44
55. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Polyphonie der Zeit, verstörende Tonalität
Eine Konzertreihe der Akademie der Künste Berlin beschäftigt
sich mit „Kairos und Chronos“
Unter dem Motto „Kairos – Chronos“ lenkt eine
Konzertreihe der Akademie der Künste Berlin in Zusammenarbeit
mit der Rundfunk Orchester und Chöre GmbH sowie der Kammerakademie
Potsdam die Aufmerksamkeit auf eine solche Vielfalt. Eine kluge
Auswahl zumeist zeitgenössischer Werke umreißt das Spannungsfeld
des subjektiv erlebten, „rechten“ Augenblicks und der
„objektiven“, messbaren Zeit.
Im Mittelpunkt des zweiten Abends, den Solisten vom Deutschen Symphonieorchester
Berlin bestreiten, steht Gerhardt Müller-Goldbooms „Prooemion“
für Mezzosopran und Streichtrio, als Vorspiel zu einer noch
zu komponierenden Oper über Ovids „Metamorphosen“
gedacht. Der zugrunde liegende Text aus dem Schlusskapitel reflektiert
den ewigen Wandel der Zeiten, in welchem das Wesen der Dinge in
immer neuen Formen Bestand hat. Sehr subtil übersetzt der Komponist
das in Klang, indem eine zunächst in Ganztonschritten weit
ausgreifende melodische Gestalt sich in immer kleinere Intervalle
bis hin zu Achteltönen verengt, ohne ihre Proportionen aufzugeben.
An Spannung und Dichte steht Mark Andrés „…Als…
II“ dieser Uraufführung nicht nach. Schraubt sich „Prooemion“
aus der Tiefe bis in zum Zerreißen gespannte Höhen, so
verbleibt Andrés Komposition wie seine beiden anderen, Worte
aus der Apokalypse des Johannes vertonende Werke in dunklen Instrumentalregionen.
Der Hörer, von Klavier, Bassklarinette, Cello weiträumig
umstellt, wird bald von harten Akkordblöcken, schwarzen Glockenklängen
ähnelnden Clustern, gewalttätig ächzenden Druckgeräuschen
bedrängt, dann wieder fahlen Nicht-Klängen am Rande des
Verstummens ausgesetzt. „Hölderlin lesen II“ von
Hans Zender, in dieser Saison composer in residence beim DSO, wirkt
dagegen zunächst blasser in eher schematischer Handhabung von
Stillstand und Bewegung: Barbara Ehwald zelebriert lange Sopran-Linien,
die in Girlanden zerstäuben, presst zerhackte Laute heraus,
um sich dann in umso hektischeren Wortkaskaden zu überstürzen.
Live-Elektronik dient hier hauptsächlich der Verzögerung,
der Verlängerung des Dialogs von Bratsche und Stimme. Die spröde,
gleichwohl pathetisch aufgeladene Askese dieser Musik ruft ein „Leiden
an der Zeit“ hervor, das Hölderlins bruchstückhaft
verschwiegener Hymne entspricht. Inmitten all dieser einer Sprache
der Moderne zuzurechnenden Musik bleibt es einem Werk des 19. Jahrhunderts
vorbehalten, Zeitstrukturen in schärfster Konsequenz, gewissermaßen
nackt und unverstellt zu thematisieren. Franz Schuberts Es-Dur-Klaviertrio
„Notturno“ bedeutet zeitlose Hingabe an den Moment wie
Verharren in der Dauer. In endlosen Terzengesängen, unaufhörlich
wiederholten Dreiklangsbrechungen drückt sich jene Erstarrung
aus, die nicht nur damalige Zeitläufe prägte, ein Kranken
an der Zeit, das auch Hölderlin prägt. Die erste zaghafte
Modulation in diesem Auf der Stelle Treten steht als individuelle
Regung gegen unverrückbare Mechanik auf, fällt sofort
wieder in sich zusammen. Befremdlicher, verstörender hat Tonalität
nie geklungen.