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nmz-archiv
nmz 2006/02 | Seite 44-45
55. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Unterwegs zu neuen Formen
Eindrücke vom Eröffnungswochenende der 19. Dresdner
Tage für zeitgenössische Musik
Von jeher waren die Dresdner Tage für zeitgenössische
Musik bestrebt, Musik nicht autonom, sondern in Beziehung zu anderen
Künsten und thematischen Kontexten zu präsentieren. Musik
und Tanz, Musik und Politik, Musik und außereuropäische
Kulturen, diese Themen gaben Impulse für die Programmgestaltung
und qualifiziert besetzte, aussagekräftige wissenschaftliche
Kolloquien. Doch seit Udo Zimmermann den genialen Coup landete,
sein Dresdner Zentrum im Festspielkomplex Hellerau anzusiedeln und
damit nicht nur zur Rettung dieses einmaligen Bauensembles in seiner
Tradition kultureller Nutzung beizutragen, sondern auch seine eigene
Institution zu konsolidieren, könnte sich ein durchgängiger
Trend weg von der reinen Konzertform, hin zu Visualisierung und
Verräumlichung ausbilden. Zum „Europäischen Zentrum
der Künste Hellerau“ umbenannt bekennt sich das Dresdner
Zentrum für zeitgenössische Musik nun zu einer Einheit
von Kunst und Leben, die um 1915 die legendären Rhythmik-Aufführungen
von Emile Jaques-Dalcroze in Hellerau geprägt hatte. Raum,
Zuschauer und Darsteller verschmolzen in Klang und Bewegung zu einem
einzigen Kunstwerk – eine Attraktion für die gesamte
damalige kulturelle Elite Europas. „Kunst im öffentlichen
Raum“ hieß auch der rote Faden des diesjährigen
Programms, der etwa japanischen Butoh-Tanz, Filmmusiken, instrumentale
Grenzgänge des Ensemble Aleph, das Kolloquium „Räume
der Musik“ und Musiktheaterminiaturen von Manos Tsangaris
„für ein Haus“ zusammenspann.
Der Raum, um den sich alles drehte, stand allerdings noch gar nicht
zur Verfügung, blieb vorerst im wahrsten Sinne „Utopie“:
Heinrich Tessenows Festspielhaus, erbaut 1913, als „Bildungsanstalt
für Musik und Rhythmik“ Geburtsstätte des Ausdruckstanzes,
später ein Sportinstitut der Nazis und sowjetische Kaserne,
wird erst 2006 nach grundlegender Sanierung wieder eröffnet.
So machte man aus der Not eine Tugend und benutzte einfach die Spielstätten
entlang der Straßenbahnlinie 8, die nach Hellerau fährt.
Wie stark Aufführungsorte auf das Dargebotene wirken, die Wahrnehmung
beeinflussen, war nachhaltig zu erfahren. Am ehesten im alten Gleis
befand sich noch der „Festival-Prolog“ des Studios Neue
Musik Moskau, sensibel und solide gearbeitete Kammermusik, die in
ihrer Konzentration auf Abstraktes und Imaginäres die Thematik
eher konterkarierte. „Briefe ohne Wörter“ von Alexei
Syumak ist so ein ungreifbares, zart zerfasertes Gebilde, das auch
der textlosen Sopranstimme keinerlei Botschaft oder Bedeutung anvertraut.
Als Höhepunkt dieses Eröffnungswochenendes war das Ensemble
Modern mit der Feier seines 25-jährigen Jubiläums angekündigt,
von Zimmermann als Würdigung des „außerordentlichen
politischen und künstlerischen Rang(s) Helleraus“ gewertet.
Dem entspreche auch die Besonderheit und Qualität der mitgebrachten
Komposition, des circa einstündigen Ensemblestücks „le
tout, le rien“ von Jens Joneleit. Von einem „ins Heute
übertragenen Bruckner“ war die Rede, „klingenden
Monolithen, die scheinbar aus der Stille wachsen“, während
das 37-jährige „Ausnahmetalent unter den deutschen Komponisten
der
jüngeren Generation“ in wortgewaltigen Einführungstexten
alle erdenklichen Grenzüberschreitungen beschwor. Tatsächlich
beginnt das Werk mit opulenten Klängen, extremen Registern
knurrender Basstuben und grellen Piccoloflöten, wilden Schlagzeugattacken
– ein Katastrophenszenario. Das stürzt in die eindimensionale
Linie ab, unendlich langgezogene, an den Rändern ausgefranste
Streicher-Unisoni. Hat dieser heftige Kontrast seine Klangreize
und auch seinen Ausdruck, so läuft er sich doch auf die Dauer
tot, ist keine Form erkennbar außer ein ewiges Vagieren und
Vegetieren, vom pflanzenhaft wuchernden Stil eines Wolfgang Rihm
durch das Fehlen an Variation, an Formen- und Figurenreichtum jedoch
weit entfernt. Richtig spannend wird es erst zum Schluss, als sich
das großartige Ensemble in eine wilde, vitale freie Improvisation
stürzt.
Nachwuchsförderung war immer ein fester Bestandteil der Dresdner
Tage für zeitgenössische Musik. Das neu geschaffene „Musik
Stipendium Hellerau“ zeichnet junge Künstler aus, die
Interesse an avancierter Kunst und interdisziplinären Projekten
haben. Jährlich wird eine Stipendiatengruppe aus Sängern,
Dramaturgen, Videokünstlern et cetera zur Realisierung eines
musiktheatralischen Projektes zusammengestellt. In diesem Jahr konnten
sich die Deutsche Karoline Schulz, die Schwedin Ida Lundén
und der Litauer Marius Baranauskas als Komponisten szenischer Fragmente
beweisen. Die Hochspannungshalle der Technischen Universität
gab im geheimnisvollen Beleuchtungsdesign Maik Blaums den futuristischen
Rahmen ab, dem die Musik leider überwiegend Klischees zwischen
Opas Oper und diffusem Weltraum- oder Sakral-Sound entgegensetzte.
Auch Regisseurin Dorothea Kirschbaum ließ den Szenarien alltäglicher
Beziehungskonflikte trotz plausibler Personenführung nicht
gerade überwältigende Phantasie angedeihen. Die Sänger
und Instrumentalisten allerdings agierten mit großem Engagement,
Einfühlung und technischem Können. Häufig zu beobachtende
Diskrepanzen kamen so zum Vorschein: Zwischen hoch entwickelter,
auch ästhetisch attraktiver Technik und in alten Verhaltensweisen
befangener Gesellschaft, experimenteller Form und konventionellem
Inhalt, hohem Interpretationsniveau und dürftiger Werkvorlage.
Zumindest sind diese jungen Komponisten noch heftig auf der Suche
nach ihren Wurzeln und davon ausgehenden authentischen Entwicklungsmöglichkeiten.