[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2006/02 | Seite 42
55. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Das Grenzenlose, das Unermessliche des Kleinen
Der Komponist György Kurtág wird am 19. Februar 80
Jahre alt
Die Musikgeschichte geht seltsame Wege. Parallele Ereignisse werden
oft nicht gleichzeitig wahrgenommen, da Mode oder Zeitgeschmäcker
die eine oder andere Seite ins Abseits drängen. Jede Gegenwart
ist in dieser Hinsicht ungerecht und später kommt es zu merkwürdigen
Faltungen. Eines freilich ist tröstlich: Jede von vorherrschenden
Strömungen bestimmte Zeit beginnt an ihren Defiziten zu leiden.
Die Moderne der 50er- und 60er-Jahre konnte jede des Romantizismus
verdächtige Ausdruckshaltung ad acta legen, im Untergehölz
aber begann die Sehnsucht danach (nicht im Sinne eines „zurück
zu“, sondern von „auf neue Art denken“) Triebe
zu schlagen.
Der im heutigen Rumänien am 19. Februar 1926 geborene ungarische
Komponist György Kurtág ist ein Musiker, der von dieser
Ungleichzeitigkeit musikalischer Entwicklungen ganz direkt, ganz
existenziell betroffen war. Bis weit in die 80er-Jahre hinein wurde
er in den westlichen Zentren der Moderne so gut wie überhaupt
nicht wahrgenommen. Als zu dieser Zeit dann das strukturell dominierte
musikalische Denken immer dünnere Resultate zeitigte, als die
meisten avantgardistischen Komponisten (z.B. Nono, Ligeti, Lutoslawski,
Feldman, Stockhausen, selbst Boulez) Prozesse des Umdenkens einleiteten,
da bemerkte man plötzlich, dass an anderer Stelle all das neu
zu Erwägende schon gedacht war. Und auf einmal stand der vordem
abgehängte György Kurtág ganz vorne in der musikalischen
Entwicklung. Eines lässt sich nämlich letztlich nicht
verdrängen: die Intensität des musikalischen Empfindens,
so abwegig diese Ansätze auch eine Zeit lang von herrschender
Meinung eingeschätzt werden. Ja es mag sogar so sein, dass
diese Intensität in Isolierung sich noch steigert, verdichtet,
charakterlich ausprägt – vorausgesetzt freilich, dass
der Komponist ein Potenzial des Überstehens ausbildet und selbstgewiss
seine Sache betreibt; lässt er sich korrumpieren, wäre
er verloren.
Kurtág hat wie kaum ein zweiter Komponist auf die energetischen
Potenzen des einzelnen Tons verwiesen. In ihm ruhen die Pole des
Ausbruchs wie des Verstummens, des ewigen Fortklingens wie des harten
Schlags. Auf einmal ist unermesslicher Reichtum da, wo bisher der
Blick auf das Messbare, auf das skalen- oder reihenmäßige
Erfassen gerichtet wurde. Und Kurtág wurde zum Propheten
dieser Unermesslichkeit. Seine Werke sind, Zeichen, Botschaften,
Spiele, Fragmente, Grüße, Hommagen, sie spielen auf engstem
Raum, weil wirkliche Energie nicht die Wucht der Detonation benötigt,
in der sie sich ohnehin verbraucht. „Energie ist für
mich Reserve von Kraft“, sagte Kurtág auf einer ihm
gewidmeten Tagung in Weingarten 2004. Und er ergänzte: „Mein
Erzfeind ist die Dynamik“. Solche Aussagen stießen ins
Rückenmark vormaliger kompositionsästhetischer Ansichten,
die bis zum Überschwang dem konkret Benennbaren und Notierbaren
trauten.
Umstürzend schöpferische Tat bedeutet aber gerade, die
Welt unter vordem ausgeschlossenen Kriterien neu zu sehen. Die Tentakel
der Empfindung können sich nicht schon gebrauchte Handschuhe
überstülpen.
Wer so verfährt, muss epigonal bleiben. Kurtág aber
ist einer der großen Suchenden, einer der großen Boten
unserer Zeit. Er entdeckte das Mannigfache im Kleinen, in den Monaden
unserer Welt. Die Intensität der Empfindung, so lässt
jedes seiner Werke erfahren, hat keine Grenzen. Dem nachzuspüren
verlangt höchste und un- eingeschränkt Anteil nehmende
Hinwendung, mit einem Sensorium, das sich im Akt des beobachtenden
Wahrnehmens selbst immer mehr verfeinert.
Solche Prozesse sind nicht nach der Masse des Ausstoßes zu
messen. Das Werk Kurtágs, zumindest das, das er 1959 noch
einmal mit einem Opus 1 beginnen ließ, ist schmal –
vergleichbar dem von Anton Webern, mit dem Kurtág manch Gemeinsames
teilt (die Liebe nach Innen, hin zum Kleinen, zum Schlummernden,
das freilich alle Entfaltungen in sich birgt). Und in späten
Arbeiten bekundet sich immer wieder die vorangetriebene Tendenz
zu noch rigoroserer und zugleich liebender Konzentration: hin auf
die nackte melodische Linie, auf den isolierten Klang, auf die alles
bergende Stille. Aber gerade diese kargen oder schüchtern einsamen
Gebilde glühen von innen heraus mit äußerster Energie,
die diametral zur Sparsamkeit der Gestalt steht. Wie viel Formen
des Nickens, des Schulterzuckens, des Kopfschüttelns, der verschreckten
Abwehr gibt es? Es gibt keine Antwort, aber es gibt das Glück
am Vielgestaltigen. Kurtágs Musik nimmt daran Anteil.
Vielleicht ist sogar dies die zentrale Botschaft Kurtágs:
Energie wächst nicht durch die Massierung, sondern durch die
konzentrierte Reduzierung der Mittel – eine Botschaft, die
radikal eingreift in unser von Erfolgsstatistiken, Quoten und materiellen
Zuwachsraten verdrehtes Denken. Solche Eingriffe aber adeln die
künstlerische Tat und verschmelzen sie mit einem Leben, das
diese Bezeichnung noch verdient.
Es bleibt Reichtum.