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nmz-archiv
nmz 2006/02 | Seite 45
55. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Die Akte Romeo ist nicht geschlossen
Eine Reise in die Vergangenheit mit Wiedererkennungseffekt
Romeo und Julia – wie oft diente die Geschichte um das berühmteste
Liebespaar der Welt als Film-, Drama-, Ballett- oder Musicalvorlage.
Die Leipziger Hochschule für Musik und Theater „Felix
Mendelssohn Bartholdy“ erweiterte jetzt die Reihe der Shakespeare-Adaptionen
um ein weiteres Musical: die „Akte Romeo“.
Um die immer währende Aktualität des Themas unter Beweis
zu stellen, legten die Autoren Edda Leesch und Frank Leo Schröder
die Handlung in zwei zeitliche Ebenen, die im gesamten Stück
miteinander korrespondieren: einerseits in die Zeit kurz vor dem
Fall der Mauer und andererseits in die Gegenwart des wiedervereinten
Deutschlands.
Verfolgt von einer rassistischen Clique finden der türkische
Murat (Matthias Knoche) und die deutsche Angie (Corinna Ellwanger)
Zuflucht in einem abgelegenen Kellerarchiv, vollgestopft mit einem
Sammelsurium aus DDR-Reliquien. Die gehetzte Angie lehnt sich an
ein Bücherregal, aus dem ein Aktenbündel auf den Boden
fällt. Und da liegt sie, die Stasi-Akte „Romeo“.
Beide beginnen darin zu lesen, die zweite Handlungsebene beginnt
und versetzt den Zuschauer ins Jahr 1989.
Hier ist die saturierte westdeutsche Familie Schmidt, Vater Alfred
(Udo Eickelmann), Mutter Christa (Manja Kloss) und Sohn Theo (Marco
Fahrland), auf der Reise nach Ostberlin, wo Alfreds Cousin Horst
Radtke (Oliver Timpe) samt Familie lebt. Theo sträubt sich
gegen das Familientreffen, kennt er die Ostverwandtschaft doch gar
nicht und muss auch noch auf einen Spanienurlaub verzichten.
Um so mehr freut sich Familie Radtke auf den Besuch aus dem Westen.
Die Soljanka ist vorbereitet und die obligatorische Schwarzwälder
Kirschtorte steht auf dem Tisch, an dem auch schon der ABV (eine
Art Blockwart im sozialistischen Wohngebiet) Platz genommen hat.
Enrico (Michael Schöpe), Sohn der Familie Radtke, freundet
sich schnell mit Theo an und schleppt ihn auch gleich auf eine Party,
auf der Theo der Liebe seines Lebens begegnet: Vera (Vivian Saleh).
Dass alle gegen eine Verbindung des Paares sind, ist vorprogrammiert.
Die Freunde, die Eltern, Veras verknöcherter altkommunistischer
Großvater (Oliver Wejwar) und die allgegenwärtigen im
Hintergrund agierenden Genossen der Stasi (Daniel Splitt). Unter
Beobachtung der Stasi, die inzwischen den Versuch unternommen hat,
Theos Vater anzuwerben, finden heimliche Treffen der Liebenden statt,
die letztendlich zur Schwangerschaft Veras führen. Ob der aussichtslosen
Liebe will sich Vera einer Abtreibung unterziehen, die in der DDR
fließbandähnlich praktiziert wird. Theo, und natürlich
auch die Stasi, erfahren von Veras Vorhaben. Hals über Kopf
fährt er im kleinen Grenzverkehr nach Ostberlin und verhindert
die Abtreibung. Für die Stasi steht inzwischen fest, dass Theo
Vera zur Republikflucht ermuntern will, was zur Verhaftung des jungen
Abiturienten führt. Anstatt sich von der Stasi für Spitzeldienste
werben zu lassen, entschließt sich Theo, um Veras Willen für
immer in die DDR überzusiedeln. Allein sein Vorhaben kommt
zu spät. Die Mauer ist gefallen, sämtliche Akteure, einschließlich
Stasispitzel, sind auf dem Weg gen Westen. Nur der verdutzte Theo
steht mit gepackten Koffern am Check Point in Richtung Osten.
Diametral dazu hat die Handlung in der Gegenwartsebene eine genau
umgekehrte Entwicklung genommen. Murat und Angie werden von ihren
rechtsextremen Verfolgern überwältigt, Murat wird krankenhausreif
geschlagen und landet in der Intensivstation eines Hospitals. Ob
die inzwischen fünfzehn Jahre alte Tochter Veras und Theos,
die von Angie ausfindig gemacht wird, Murat aus dem Koma befreien
kann, bleibt offen...
Die Inszenierung ist von Klischees nicht frei und will es auch
gar nicht sein. Da steht die Nylonschürze der Mutter Radtke
(Christin Herrmann) dem königsblauen Kostüm der Mutter
Schmidt gegenüber, oder der anmaßende Kellner der HO-Gaststätte
wird einer Schar devoter Servierer eines westlichen Restaurants
gegenübergestellt. Die turbulenten Szenen wollen den miefigen
grauen DDR-Alltag augenzwinkernd widerspiegeln, ebenso wie die Wohlstandsgesellschaft
der BRD der 80er-Jahre. Den Ausstattern gelingt das vorzüglich.
Katja Schröders Bühnenbild und die Kostüme von Barbara
Schiffner verführen in eine Vergangenheit mit Wiedererkennungseffekt.
Vierzehn Darsteller – acht Musicalstudenten und sechs Jazz-/Pop-Gesangsstudenten
des 2. bis 4. Studienjahrs – stellen in dem turbulenten Musical
ihre Wandlungsfähigkeit unter Beweis, haben sie doch fast 50
Rollen zu besetzen. Das erfordert nicht nur rein logistisch Höchstleistungen,
sondern stellt auch die Vielseitigkeit der Studenten unter Beweis,
die sängerisch und (!) tänzerisch Spitzenniveau zeigen.
Quer durchs Musical ziehen sich neben Eigenkompositionen Ost-
und West-Popsongs der 80er-Jahre, neu aufpoliert und arrangiert
von dem Komponisten René Möckel, dem Sänger und
Hochschulabsolventen Juan Miguel Garcia, der Jazz-Gesangs-Pädagogin
Evelyn Fischer und dem Sänger und Arrangeur Matthias Knoche,
selbst noch Student in Leipzig. Die Popsong-Remakes sind frisch
und witzig arrangiert, sodass der Verdacht, verstaubte Zweitauflagen
zu hören, sofort zerstreut wird. So wird etwa Grönemeyers
„Flugzeuge im Bauch“ als Satzgesang a cappella interpretiert,
was so typisch für Leipzig ist.
Den Eigenkompositionen ist der Sound des 21. Jahrhunderts zu eigen,
der durch eine sechsköpfige Band umgesetzt wird. Der Stasispitzel-Rap
ist unübertrefflich, nicht nur komponiert, sondern auch von
Oliver Wejwar und Daniel Splitt interpretiert. Letzterer überzeugt
auch mit Lindenbergs „Sonderzug aus Pankow“, ohne den
dieses Musical undenkbar wäre.