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nmz-archiv
nmz 2006/02 | Seite 29
55. Jahrgang | Februar
Deutscher
Tonkünstler Verband
Belcanto im Kunstlied
Neue Wege der Liedinterpretation
Immer lauter werden die Rufe nach mehr Emotionalität in der
Liedinterpretation. Schlecht besuchte Liederabende, Langeweile beim
Zuhören, Verdruss über die immer gleichen Interpretationsrezepte
besonders im deutschen Liedgesang zeugen von einer dringenden Notwendigkeit
zu neuen Wegen in der Liedinterpretation. Die von vielen schon totgeglaubte
und totgeredete Kunstform benötigt dringend eine „Wiedergeburt“.
Was hat zu dieser Erstarrung geführt? In erster Linie sicher
die Überschätzung und die übermäßige Verehrung
einzelner Interpreten. Wenn neben einem Fischer-Dieskau nichts mehr
gilt, jeder Bariton an ihm gemessen wird, dann muss das zu Stillstand
in der Liedinterpretation führen. Und nicht nur dazu, denn
es geht ja sogar so weit, dass den anderen Stimmfächern keine
besondere Bedeutung in diesem Bereich zuerkannt wird. Zugespitzt
formuliert heißt das: Nur der deutsche Bariton ist fähig,
(deutsche) Kunstlieder angemessen zu interpretieren.
Was aber ist die ursprüngliche Bedeutung von Interpretation?
Der Begriff stammt aus dem Lateinischen: „interpretatio“;
Deutung, Übersetzung, Erklärung – im Lexikon näher
erläutert mit „Wiedergabe nach eigenem Verständnis,
Deutung“ – und dieses eigene Verständnis, die Individualität,
also Unverwechselbarkeit unter Berücksichtigung der Werktreue
liegt nicht mehr vor. Künstlerischer Ausdruck entsteht aber
nur durch Unverwechselbarkeit und Authentizität. Wo diese fehlt,
macht sich schnell Beliebigkeit oder Uniformität breit, das
Publikum wird ausgeschlossen und Langeweile ist vorprogrammiert.
Natürlich sind die Verdienste eines Fischer-Dieskau für
die Akzeptanz und die Verbreitung des Kunstliedes nicht von der
Hand zu weisen, da wurde Pionierarbeit geleistet, um das Lied aus
seinem Schattendasein zu befreien und vom dilettierenden Laiengesang
auf das professionelle Konzertpodium zu heben. Daraus jedoch abzuleiten,
dass nur die Auffassung dieses Sängers zur Liedinterpretation
gilt, ist für die Weiterentwicklung dieser Kunstform und Berücksichtigung
der völlig anderen Zeit, in der wir nun leben, sehr unklug
und gefährlich.
Ein weiterer Aspekt hat aber ebenfalls zu dieser Erstarrung im
Liedgesang geführt: die Gesangstechnik. Natürlich ist
die technische Ebene nicht von der eingefahrenen Interpretationsart
im Liedgesang zu trennen, für eine Analyse und Verdeutlichung
sei dies jedoch erlaubt. Die so genannte deutsche Gesangstechnik
(hier nur in Kürze beschrieben) bevorzugt offene Vokale, ein
Nebeneinanderstellen der Register und einen etwas starren hupenden
Klang. Sänger1, die nach dieser Technik ausgebildet werden,
haben folgende Defizite, die sich im Laufe der Jahre noch verstärken:
eine begrenzte Tiefe und Höhe, eine geringe Schwell- und Tragfähigkeit
der Stimme, Schwierigkeiten mit dem Passaggio in die Höhe,
ein völliges Auseinanderfallen der Register (Singen in drei
Etagen) und ein Nebeneinanderstehen von Vokal und Konsonant (was
zur Luftdruckverstärkung auf Konsonanten („Spucken“)
führt, um die wesentlichen zu nennen.
Besonders Baritone kompensieren den Höhenmangel ihrer Stimmen
dann gerne mit einem unschönen Gebrauch des Falsetts, was den
Stimmklang noch mehr zerfallen lässt. Bei Fortestellen stellt
sich durch starkes Forcieren, da der Ton nicht anders anspricht,
ein harter, fester und unflexibler Klang ein (Rufen, Bellen oder
Schreien jenseits des Timbres statt Forteklang). Frauenstimmen haben
in der hohen Lage im Laufe der Zeit mit einem unkontrollierbaren
Vibrato, einem knabigen Klang und Luft in der Mittellage und einer
rauen Brustsstimme zu kämpfen.2
Die meisten deutschen Liedsänger sind nach dieser oder ähnlicher
Technik ausgebildet worden, warum sich das Klangbild natürlich
sehr ähnelt. Beim Hörer hat sich im Laufe der Zeit dadurch
eine gewisse Gewöhnung eingestellt: manche wollen nur dieses
hören (besonders ältere Menschen), andere (und sie bilden
die Mehrheit) sind gelangweilt oder sogar abgestoßen ob des
hässlichen unflexiblen Klangs mit all seinen Folgen und wenden
sich ab.
Besonders bedauernswert ist es, wenn die genannten stimmtechnischen
Probleme von einigen mit Ausdruck verwechselt werden. Sogar Angestrengtheit,
Brüchigkeit oder Rauigkeit, völliges Verlassen des persönlichen
Timbres werden dann als charaktervoll bezeichnet, als handelte es
sich um Rock- oder Popgesang.
Hat ein Sänger aber erst einmal solche gewaltigen Stimmprobleme,
ist er zu wirklicher Interpretation gar nicht mehr in der Lage.
Alle Versuche zu textlich-musikalischer Ausdeutung sind zum Scheitern
verurteilt, es bleibt alles schemenhaft, plakativ und oberflächlich.
Was ist zu tun? Die altitalienische Gesangstechnik, die zu großer
Individualität, vokaler Schönheit (echter Belcanto) und
langem Leben einer Stimme führt und die leider immer mehr auszusterben
droht, weil immer weniger Sänger sie beherrschen und somit
nur die wenigsten diese weitergeben können, ist durchaus nicht
nur im Operngesang vorstellbar.
Ihre wesentlichen Merkmale sind eine optimale Durchmischung der
Register (ideales Passaggio) sowie ein einheitliches Vibrato durch
alle Register, eine herausragende Schwell- und Tragfähigkeit
der Stimme, eine gute Höhe und Tiefe ohne Verwendung des Falsetts
oder ähnlichem zur Erweiterung des Ambitus. Darüber hinaus
ein Piano, das auf Forteposition gebildet wird, ein wirklicher Vokalausgleich
und ein Vordersitz, der niemals erzwungen wird und somit die Artikulation
enorm erleichtert (Textverständlichkeit), Vokal und Konsonant
werden ideal verbunden, das Ergebnis ist Natürlichkeit.3
Im Liedgesang eingesetzt führt die altitalienische Gesangstechnik
zu erstaunlichen, neuen Ergebnissen der Interpretation: Hupender
Klang beispielsweise wird abgelöst durch eine beseelte Vokallinie,
an die Stelle von forciertem Klanggepräge (Rufen, Bellen oder
Schreien) bei Fortepassagen tritt ein klingendes Forte, welches
im Timbre des Sängers bleibt, schwingungsfähig ist und
durch die Eigenresonanz auch Resonanz beim Hörer erzeugt. Manieriertes
„Spucken“ von Konsonanten wird ersetzt durch natürliche
Artikulation ohne Luftdruckverstärkung auf einzelnen Konsonanten.
Durch eine frei schwingende Stimme und damit auch eine gesamtkörperliche
Durchlässigkeit wird es überhaupt erst möglich, eine
persönliche (personare – hindurchklingen) Interpretation
zu erreichen. Die so oft zitierte Verschmelzung von „Körper-Seele-Geist“
kann so erst erlebbar werden. Deklamatorisches und kantables Element
widersprechen sich nicht mehr, sondern können auf natürliche
Art miteinander verbunden werden. Auch im dynamischen und im Klangfarbenbereich
ist die altitalienische Technik der deutschen weit überlegen.
Dadurch dass das Piano auf Forteposition gebildet wird, kann der
Sänger jederzeit mühelos von einer dynamischen Forderung
in die andere wechseln und bleibt dabei immer in seinem Timbre.
Das heißt aber nicht, dass er monochrom singt, sondern im
Gegenteil mit einer großen farblichen Nuancierungskraft durch
das freie Spiel mit phonetischen Räumen innerhalb seiner persönlichen
Stimmfarbe. Klangverfremdung der Stimme wird also ersetzt durch
Klangnuancierung, Oberflächlichkeit des Ausdrucks weicht Intensität
des Ausdrucks.
Wenn der Sänger seine Stimme solcherart beherrschen lernt,
ist er in der Lage, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Befreit
er sich dann auch noch von altbackenen Interpretationsmustern, ist
der Weg frei für neue Ergebnisse im Liedgesang.
Mit großer Intensität und Emotionalität zu singen
und zu interpretieren, bedeutet aber auch, den mimisch-gestischen
und den Bewegungsaspekt nicht außer Acht zu lassen. In diesem
Bereich ist noch wahre Pionierarbeit zu leisten. Wer kennt nicht
das Bild des steifen Sängers, oft an den Flügel geklammert,
der artig seine Verse vorträgt?
Natürlich stehen auch hier Gewohnheiten, die fast schon Tradition
geworden sind, massiv im Wege. Dabei ist es möglich, die Bühnenpräsenz
und Ausdruckskraft auf dem so heiklen (weil „nackten“:
ohne Kostüm und Requisite und ohne Szene) Konzertpodium zu
verbessern und zu erhöhen, wenn man sich als Sänger öffnet
für diesen äußerst sensiblen und anspruchsvollen
Bereich.
Gemeint sind nicht billige, Effekt heischende Gesten oder aufgesetzte,
unnatürliche Mimik, das ist ein Verharren in Oberflächlichkeit
– wie es leider besonders bei Sängern häufig zu
beobachten ist – sondern tief aus dem Innern der Person fließende,
echte Emotionen, die sich dann auch mimisch-gestisch äußern
können. Um das zu erreichen, ist ein langjähriges Training
notwendig, das auch voraussetzt, dass der Sänger sich in Demut
öffnen kann und jegliche Eitelkeit überwunden wird.
Würden mehr Sänger sich darauf einlassen, die ausgetretenen
Pfade der Interpretation, die zu Stimmproblemen führende Gesangstechnik
und alte Präsentationsvorschriften auf dem Gebiet des Kunstliedes
aufzugeben und stattdessen wie beschrieben, mit Mitteln des Belcanto
(altitalienische Gesangstechnik) und einer Verschmelzung von Mimik,
Gestik und Bewegung neue Wege auszuprobieren, wäre es möglich,
dieser Kunstform neue Chancen auf dem Konzertpodium zu eröffnen,
indem sie zu einer unverfälschten, intensiven Bühnenkunst
umgestaltet und so in eine packende und bewegende Kommunikationskunst
mit dem Hörer verwandelt würde.
Verena Rein
1 Zur Vereinfachung wird hier und im Folgenden
nur der männliche Begriff Sänger verwendet, gemeint
sind immer Sängerinnen und Sänger.
2 Die Gründe für diese Defizite und Stimmprobleme sind
so komplex, dass sie hier aus Platzgründen nicht dargestellt
werden können. Zu diesem Thema ist ein gesonderter Artikel
notwendig.
3 Zu altitalienischer Technik siehe auch Artikel: „Zungentechnik
beim Gesang“ von Verena Rein, online unter www.verena-rein.de