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nmz-archiv
nmz 2006/02 | Seite 14
55. Jahrgang | Februar
Gegengift
Orwells Triumph: die Kulturen der Lüge
Bekanntlich beschrieb der britische Autor George Orwell in seinem,
wie man heute leider sagen muss, prophetischen Roman „1984“,
wie im so genannten Ministerium der Liebe gefoltert und im Ministerium
der Wahrheit Propaganda verbreitet und die Realität nicht nur
uminterpretiert, sondern im Bedarfsfall einfach ganz gelöscht
wird. Warum das für die Kunst, speziell die Musik interessant
ist? Etwa weil es mittlerweile diverse Orwell-Libretti gibt und
darüber hinaus mehr oder weniger ambitionierte Versuche Orwells
Dystopie in düstere Sounds zu übersetzen? Nein, der Grund
für Orwells Aktualität reicht viel weiter und ist bedrückender.
Kunst – und auch die „reinste“ aller Künste:
die Musik – existiert nicht in einem hermetischen Elfenbeinturm,
in einer Welt eigenen Rechts, sondern mitten in der Gesellschaft.
Zwar soll sie nur ihren eigenen Regeln und Imperativen folgen und
nicht denen anderer Sub-Systeme, wie das bei Luhmann heißt,
also etwa der Politik, der Pädagogik oder der Religion, aber
sie gedeiht nur auf einem gemeinsamen Humus. Früher war das
der Mythos, also der sich ständig erneuernde Bestand an Erzählungen
und Überzeugungen, der für alle verbindlich war. Heute
spricht man von Kultur oder vielleicht besser im Plural von Kulturen.
Sie legen unsere Selbst- und Weltbilder fest und die Regeln des
Umgangs miteinander. Wenn das Fundament nicht trägt, weil es
von vornherein schief ist, dann wird alles brüchig. Wenn der
Boden vergiftet ist, dann kann die schönste Pflanze, etwa die
blaue Blume der Romantiker, nicht gedeihen. Kurz: Es kann niemandem
gleichgültig sein, wenn die Kultur der Lüge zum Normalfall
wird, wenn nur noch der als „clever“ oder überhaupt
als gesellschaftsfähig gilt, der lügt und leugnet, der
der Wahrheit so lange einen „spin“ gibt, wie das heutzutage
heißt, bis sie so verdreht ist, dass sie für den jeweiligen
eigenen Zweck passt. Kulturen der Lüge heißt es, weil
auf höchst verschiedene, aber jeweils vergleichbar virtuose
Weise gelogen und gelöscht wird. Wer einfach nur sagt, was
er denkt oder sieht, wer nicht darauf achtet, wie die aktuelle Sprachregelung
lautet, der wird rasch zum „misfit“. Dem Komponisten
Stockhausen ist es nach dem 11. September so ergangen, weil er rein
ästhetisch und analytisch reagierte, wo doch allein moralische
Empörung, rituelles Mitgefühl und politische Subordination
angemessen war.
Weil Stockhausen sagte, was, zumindest zu dieser Zeit, niemand sagen
durfte, wurde er gelöscht; zwar nicht als private Person, physisch,
sehr wohl aber als öffentliche Person, als Komponist, als einer,
der eine Stimme hat und nicht nur atmet. Festivals, Aufführungen,
die seiner Musik galten, wurden abgesagt. Und wer das tat, wollte
zuallererst seine eigene Haut retten. Auch die bekannte indische
Autorin Arundhati Roy, die gesagt hatte, Bush und bin Ladin seien
„dunkle“ Brüder, wofür sie Argumente anführte,
verfiel dem Verdikt. Und zwar ohne dass ihre Argumente geprüft
worden wären. Was sie gesagt hatte, war ja „unmöglich“,
also musste man nicht erst schauen, ob es wahr oder falsch war.
Man kann auch lügen, indem man verschweigt; oder die Geschichte
so erzählt, dass sie der Zuhörer wahrscheinlich falsch
versteht. Die hochbrisante Äußerung des neuen iranischen
Präsidenten Ahmadineschad, Israel müsse von der Landkarte
verschwinden, wurde unisono so kolportiert, dass man sie „nach
Auschwitz“ als Aufforderung zum Massenmord an den Juden verstehen
musste und nicht „nur“ als Forderung der Ersetzung des
„zionistischen“ Staates Israel durch ein multi-ethnisches
„demokratisches“ Palästina. Wohlgemerkt: Die Rede
Ahmadineschads ist auch in ihrer „authentischen“ Version
explosiv genug, aber es besteht doch ein Riesenunterschied zwischen
einer falschen, vielleicht sogar fatalen Politik und schierer Mordlust.
Wer in den 60er- oder 70er-Jahren junge Menschen von den Vorzügen
der westlichen Lebensform, speziell des freien Worts, der freien
Presse überzeugen wollte, der gab ihnen gern das „Neue
Deutschland“, das Verlautbarungsorgan des DDR-Regimes zu lesen.
Das war eine orwellsche Erfahrung. Der große Bruder sprach
und alle hörten zu. Selbst zu sprechen, gar anders, „abweichend“
zu argumentieren, konnte einem Kopf und Kragen kosten. Bedrückender
noch als die Lüge wirkte die absolute Vorhersehbarkeit all
dessen, was da gedruckt wurde. Man brauchte das „Neue Deutschland“
nicht zu lesen, weil man auch ohne Lektüre wusste, was zu einem
bestimmten Thema drinstand. Mittlerweile wirkt auch die „freie“
Presse im siegreichen Westen oft merkwürdig gleichgeschaltet.
Zu manchem scheint eine abweichende Meinung nicht mehr möglich,
weil man dadurch seine Existenz, seine Stellung riskierte.
In anderen Fällen wird so plump gelogen, als komme es auf
die Logik der eigenen Rede längst nicht mehr an. Wenn etwa
der „Steuerexperte“ Kirchhof, der durch seine „aufkommensneutrale“
Reform die Reichen und ganz Reichen um zigtausende Euro entlasten
wollte, zugleich behauptete, die neuen Regeln kämen allen,
vor allem den Ärmeren zugute. Oder wenn man bei den neuen Hartz-
IV-Regelungen von „Missbrauch“ spricht, nur weil die
Betroffenen von den Paragraphen so Gebrauch machten, wie es nicht
im Sinne der Erfinder ist. Dazu passt dann auch ein neuer „big
brother“-Totalitarismus mitten in der freiheitlichen Gesellschaft.
Etwa wenn Behördenvertreter drohend und vieldeutig sagen, man
habe mehrmals zu verschiedenen Zeiten bei Herrn oder Frau X angerufen
und nie jemanden „angetroffen“. Als gelte für Langzeitarbeitslose
bereits Hausarrest oder zumindest die Pflicht, den Telefonhörer
abzuheben.