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nmz-archiv
nmz 2006/02 | Seite 13
55. Jahrgang | Februar
Kulturpolitik
Muffige Re-Importe gibt es nicht
Grenzenlos: das Konzept des World New Music Festivals 2006
Zwei Festivals, die sich überhaupt nicht gleichen, stellt
die Redaktion in dieser Ausgabe vor. Das Forum Neuer Musik in Köln
(siehe Seite 14) und das World New Music Festival „grenzenlos“
in Stuttgart. Andreas Kolb sprach mit den Festivalleitern. Christine
Fischer hält als Managerin der Neuen Vocalsolisten Kontakt
zu zahlreichen Veranstaltern und Partnerensembles in Europa. Vor
einem Jahr übernahm sie die Leitung des ISCM World New Music
Festival, das im Juli 2006 in Stuttgart im Auftrag der Internationalen
Gesellschaft für Neue Musik stattfinden wird.
Christine
Fischer und ihr Team schufen in der zum Theaterhaus Stuttgart
umgewandelten Rheinstahlhalle ideale Bedingungen für
die Neue Musik. Foto: MdJ
nmz: Das Festival MärzMusik in Berlin thematisiert
Fernost und den Westen, das Forum Neuer Musik des Deutschlandfunks
heißt 2006 „Begegnungen FernMittelOst“. Aber nicht
nur die Spezialfestivals, auch etablierte Klassikfestivals öffnen
sich zunehmend der Musik anderer Kulturen. Wie positioniert sich
„grenzenlos“, das World New Music Festival in Stuttgart,
innerhalb dieser Tendenzen?
Christine Fischer: Das ist eine logische Entwicklung.
Ich denke, die Konzepte der Veranstalter gehen einher mit den
Bedürfnissen der Künstler und auch der Rezipienten.
Im Zeitalter der grenzenlosen Kommunikation, der Mobilität,
des permanenten Informations-(über)flusses weiß man
viel vom anderen und will und sollte noch mehr und vor allem kompetent
wissen. Die Welt hat ein so enges Bezugssystem, die Globalisierung
greift in das Leben jedes einzelnen Menschen jedes Landes ein,
und ungeachtet der trennenden Grenzen von Staatsideologien und
Religionen entsteht bei vielen ein Zusammengehörigkeitsgefühl
und eine Solidarität gegenüber allen Menschen aller
Kulturen.
Und es entsteht auch eine große Neugierde. Es gibt seit
langem zahlreiche Künstleraustauschprogramme, Gastdozenturen
und so weiter. Auch die Festivals müssen und wollen auf diese
Entwicklungen reagieren. Daran gemessen war die ISCM (Internationale
Gesellschaft für Neue Musik), der offizielle Träger
des Festivals, bislang vergleichsweise traditionell. Die Partituren,
die aus den 50 Mitgliedsländern als Vorschläge für
das Festival eingesandt wurden, sind sehr an europäischer
Ästhetik ausgerichtet. Das hat natürlich mit unterschiedlichen
Kunstbegriffen zu tun, unsere europäische Definition für
das Kunstwerk als Unikat und die Obligatio des „Neuigkeitswertes“
spielte in anderen Kulturen überhaupt keine Rolle. Aber ein
World New Music Festival, das sich anmaßt, die Neue Musik
der Welt vorzustellen, muss über den Tellerrand hinausblicken
in andere Kulturen. Das ist für mich auch eine politische
Frage. Insofern war es für mich selbstverständlich,
andere Kulturen in das Festival einzubeziehen beziehungsweise
einen anderen Blickwinkel einzunehmen auch gegenüber den
Ländern und Kulturen, die zur ISCM gehören.
nmz: Was ist – in aller Kürze –
das Konzept von „grenzenlos“ im Vergleich zu den vormaligen
Weltmusiktagen, deren Tradition bis 1923 zurückreicht?
Fischer: Ich habe nicht 80 Jahre ISCM analysiert.
Wahrscheinlich waren noch nie so viele verschiedene Kulturen integriert.
Vermutlich war der Altersdurchschnitt der Komponisten noch nie
so jung. Und es gab noch nie so viele interkulturelle Projekte.
Dennoch habe ich versucht, der ISCM gerecht zu werden, und habe
Musik aus fast allen der 50 Mitgliedsländer einbezogen –
wenn auch nicht so viele der offiziell eingereichten Werke.
nmz: Welche Folgen kann/soll „grenzenlos“
haben? Oder anders ausgedrückt: Ist dieses Großfestival
nachhaltig angelegt oder ein einmaliger Event?
Fischer: Das ISCM-Festival wird wohl in einigen
Jahren auch wieder in Deutschland stattfinden, aber sicher zu
unseren Lebzeiten nicht in Stuttgart. Insofern ist es einmalig.
Dennoch hat dieser ganze Aufwand für mich nur einen Sinn,
wenn eine Nachhaltigkeit entsteht. Ein solches „Event“
kann viel in die Gesellschaft hinein transportieren, es erreicht
eine hohe Aufmerksamkeit. Ich habe zahlreiche Vermittlungsprojekte
im Zusammenhang mit dem Festival initiiert, für hunderte
von Schülern, aber auch für Erwachsene, ich hoffe also,
Neue Musik selbstverständlicher in unserem Kulturleben zu
verankern.
Mein anderer Wunsch bezieht sich auf die Zusammenarbeit der Veranstalter
und Ensembles für Neue Musik. Sehr viele Institutionen, Ensembles,
Musikologen und Vermittler sind in das Festival integriert oder
haben gar am Konzept mitgewirkt, es ist ein Ereignis für
die ganze „Szene“ Neuer Musik in Deutschland. Dieser
Zusammenhalt soll bestehen bleiben. Als gegenseitige Lobby, als
„Ideen-Pool“ können wir die Bedeutung der zeitgenössischen
Musik ganz anders in der Öffentlichkeit bewusst machen. Oder
gar, wie ich hoffe, Begeisterung hervorrufen.
nmz: Was bietet der Standort Stuttgart? Warum
kommt das World New Music Festival in den Süden der Republik?
Fischer: Wir haben uns für das Festival
beworben, ein gutes Konzept abgeliefert und den Zuschlag bekommen.
Stuttgart hat eine hochinteressante und reichhaltige Kulturszene,
und viele Kollegen beteiligen sich mit einem ungeheuren Einsatz
am Festival. Allen voran die Staatsoper Stuttgart und das Forum
Neues Musiktheater mit vier Eigenproduktionen, der SWR, dessen
Klangkörper „Ensembles in residence“ sind, die
Akademie Schloss Solitude, das Stuttgarter Kammerorchester, aber
auch das Kunstmuseum und viele andere. Außerdem –
das ist jetzt mein Lokalpatriotismus – hat Stuttgart eine
wunderschöne Umgebung, es lohnt sich, hier seine Ferien mit
dem Festival zu verbinden (das Festival ist in der zweiten Julihälfte!)
nmz: Welche ästhetischen Kriterien werden
für Einladungen nach Stuttgart angelegt? Ist der Begriff Neue
Musik für das Programm noch tauglich? Und bekommen wir jetzt
den Reimport von seit Jahrzehnten, oder sogar Jahrhunderten exportierter
westlicher Kultur?
Fischer: Nein. Kein Reimport. Wir (Europäer)
haben importiert und exportiert wie andere Kulturen auch, seit
hunderten von Jahren. Den etwas „muffigen“ Reimport
in ISCM-Gefilden, den Du meinst, habe ich weitgehend vermieden.
Mich interessiert, was junge Künstler im 21. Jahrhundert
umtreibt, wo sie sich positionieren, worauf sie sich beziehen
und welches Neuland sie beschreiten. Dieses Neuland findest Du
in allen Kulturen der Welt. Natürlich ist das „Neue
Musik“.
nmz: Das ISCM World New Music Festival entsteht
im komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Organisationen und
Verbände wie DEGEM, HKW, INNM oder auch örtlichen Veranstaltern
wie Musik der Jahrhunderte und dem Theaterhaus Stuttgart. Wie bringt
sich da jeder ein?
Fischer: Ich habe mir gewünscht, dass jede
Institution ihr besonderes Profil ins Festival einbringen kann.
Das zieht sich durch bis hin zu den Konzertprogrammen. Ich habe
mit jedem einzelnen Ensemble lange gesprochen, welche Musik sie
interessiert, mit welchen Kulturen sie sich gerne auseinandersetzen
wollen, welche Stücke sie noch vorschlagen wollen. Man kann,
glaube ich, die Profile im Programm ziemlich gut erkennen.