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nmz 2006/02 | Seite 1
55. Jahrgang | Februar
Leitartikel
Mit Kulturpreisen gegen den Kulturverfall
Einige Anmerkungen zum Siemens-Musikpreis für Daniel Barenboim
· Von Gerhard Rohde
Jedes Jahr am Ende des Monats Januar wird das Geheimnis enthüllt,
das die Musikwelt in Spannung hält. Also: der Ernst von Siemens
Musikpreis 2006 geht an den Dirigenten und Pianisten Daniel Barenboim.
Die mit 150.000 Euro dotierte Auszeichnung wird dem Künstler
von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 12.
Mai 2006 bei einem Festakt im Wiener Musikverein überreicht.
Die Laudatio hält Pierre Boulez. Barenboim will 100.000 Euro
für die Sanierung der von ihm als Musikchef geleiteten Berliner
Staatsoper spenden, 50.000 gehen an die neue Barenboim Stiftung
für Musikbildung.
Siemenspreisträger 2006 im Spiegelbild: Daniel Barenboim
Foto: Charlotte Oswald
Die Begründung der Jury für die Zuerkennung des Preises
beschreibt vor allem den Lebens- und Karriereweg des 1942 in Buenos
Aires geborenen Musikers: die rasche internationale Karriere als
Pianist, die Dirigentenlaufbahn, die ihn in fast alle Konzertsäle
der Welt führte, außerdem lange Zeit als Festspieldirigent
nach Bayreuth. Barenboim ist noch Chefdirigent des Chicago Symphony
Orchestra und Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter
den Linden. Anerkannt wird auch sein Einsatz für die zeitgenössische
Musik. Mit Boulez verbindet ihn Freundschaft. Dessen „Notations“
gehören für Barenboim zu den zentralen Werken der Musik
überhaupt.
Die Jury hat aber nicht nur der Musiker Barenboim, sondern auch
dessen politisches Engagement beeindruckt. In Sevilla gründete
er 2004 die nach seinem Freund, dem verstorbenen palästinensischen
Literaturwissenschaftler Edward Said, benannte Stiftung zur Förderung
junger Musiker aus Israel und den arabischen Ländern. Barenboims
Friedensbemühungen im Nahen Osten basieren auf dem symbolisch
zu begreifenden Gründungsakt für das „West-Eastern
Divan Project“, bei dem junge Musiker aus Israel und Palästina
gemeinsam in einem Orchester musizieren. In Jahr 2007 wird das Orchester
als Residenz-Orchester bei den Salzburger Festspielen anwesend sein.
Barenboim entfaltet bei seinem politischen Engagement notfalls auch
Courage: als er bei der Verleihung des „Wolf Foundation Prize
in the Arts“ an ihn, 2004 in Jerusalem, statt einer freundlichen
Dankesrede die Gründungsurkunde Israels zitierte, gleichsam
als Protest gegen den gegenwärtigen Zustand der Beziehungen
zwischen Israel und Palästina, fand er bei der Festversammlung
wenig Zustimmung, geschweige denn Begeisterung.
Auch für diese persönliche Haltung in schwierigen und
problematischen politischen Situationen mag die Auszeichnung an
Barenboim stehen. Kunst und Musik existieren nicht im gesellschaftlich
luftleeren Raum, gleichsam als schwebendes schönes Mobile,
allein dem Vergnügen der „Einwohner“ dienend. Der
Siemens Musikpreis, nach seinen Stiftungsstatuten der „Förderung
der Kunst, insbesondere der Heran-und Fortbildung des künstlerischen
Nachwuchses auf dem Gebiet der Musik“ verpflichtet, hat, vielleicht
sogar ungewollt, im Verlauf seiner Existenz seit 1974 (erstmals
an Benjamin Britten) auch eine politische Dimension hinzugewonnen.
Diese Dimension wächst gegenwärtig überproportional
schnell. Dabei geht es in erster Linie gar nicht einmal um die ständig
sich verschlechternden ökonomischen Bedingungen, unter denen
die Kultur in unserem Land arbeiten muß. Die ständigen
Negativ-Diskussionen über die Förderung von Kunst und
Kultur, die Klagen über uneinsichtige Politiker, die oft um
geringer Einsparungen willen verdienstvolle künstlerische Aktivitäten
zur Disposition stellen, die häufig schleimigen Anbiederungen
an sogenannte Sponsoren, die ihre Kulturgaben vor allem zur eigenen
Imagepflege „opfern“ – das alles sind vordergründig
Erscheinungen, die die „Kultur“ bedrängen und beschädigen.
Viel bedrohlicher aber ist das schwindende Bewußtsein bei
vielen Menschen, auch und gerade bei jüngeren, was das überhaupt
ist: Kultur, Kunst, Musik in ihrer E-Form, Literatur. Das schlimmste
dabei ist, dass diese regressiven Tendenzen inzwischen sogar die
Künstler selbst, die „Macher“, die Regisseure,
auch Musiker erfasst haben.
Wenn man gerade in diesen Tagen liest, wie die Filmregisseurin
Doris Dörrie, die irgendwann einmal in den letzten Jahren die
Oper für sich entdeckt hat, die Zukunft der Oper begreift,
dann packt einen das gelinde Grausen. Kunst, Musik, Oper lässt
sich nicht dadurch retten, das man alles aufs niedrigste TV-Niveau
herunter arrangiert, nur damit es die Spaßjugend versteht
und anzieht. Wer solche Zurichtungen von Werken besichtigt, weiß
danach wirklich nichts von dem, was im Werk verhandelt wird. Das
hat mit konservativer Rückständigkeit nichts zu tun, nur
mit dem Beharren auf den Resten einer möglichen Intelligenz,
die den Dörries & Co. offensichtlich abhanden gekommen
ist. Wer aber engagiert immer wieder solche künstlerischen
Windbeutel? Der Opportunismus mancher Intendanten ist zumindest
ebenso indiskutabel. Was bedeutet das alles für den Siemens-Preis?
Sehr viel. Mit den Auszeichnungen an wichtige Persönlichkeiten,
an vielversprechende junge Künstler und verdienstvolle Institutionen
und Aktivitäten setzt der Siemens-Musikpreis mit seinem Hauptpreis
und den vielen Förderpreisen einen markanten Gegenakzent zu
den herrschenden Tendenzen. Die Liste der Förderpreise in Höhe
von fast 1,4 Millionen Euro liest sich wie ein Gotha der aktuellen
Musik. Die drei Komponistenpreise erhalten diesmal die Griechin
Athanasia Tzanou und die beiden Deutschen Jens Joneleit und Alexander
Muno. Nie gehört? Eben! Wer nur daran denkt, wie er Mozart
verpoppen kann, weiß nicht, dass sich in den Werken der Kunst
auch eine Geschichte des Geistes abbildet. Barenboim, Tzanou, Joneleit,
Muno und die Jury der Siemensstiftung wissen das. Und auch manche
andere, die noch nicht den Musikpreis erhalten haben, ihn gleichwohl
längst verdient hätten, wie ein Michael Gielen oder eine
Yvonne Loriod, um nur diese beiden Namen zu nennen, als kleine Anregung
für die Zukunft.