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nmz-archiv
nmz 2006/02 | Seite 33
55. Jahrgang | Februar
Landesmusikräte
Absichtsvoll gestaltete akustische Vorgänge
Kompositionsworkshop „Wort und Ton“ für Mädchen
und junge Frauen
Durchaus entschlossen geht der Sprecher zum Flügel, „ERBUNWÜRDIG“
herrscht er die Interpreten an, nimmt einige Seiten mit scheinbar
juristischen, doch sinnlosen Formulierungen und drückt sie
den Musikern in die Hand. Unter deren verdutzten Blicken deklamiert
er quintolisch und triolisch „Vorschriften finden Anwendung“
und klappt den Flügel zu: Das Ende von Fanja Raums gleichnamiger
Komposition, die verfremdete Textauszüge des Familienrechts
als eine musikalische Kafkaeske für Sprecher, Singstimme, Klarinette
und Klavier vertont. Zugleich Teil des Abschlusskonzerts des Kompositionsworkshops
für Mädchen und junge Frauen am 27. November 2005 in der
Clara-Schumann-Musikschule Düsseldorf.
Gemeinsam mit weiteren acht Teilnehmerinnen war ich zum wiederholten
Mal beim Kompositionsworkshop für Mädchen und junge Frauen
dabei, der 2005 unter dem Thema „Wort und Ton“ in der
Clara-Schumann-Musikschule in Düsseldorf stattfand. An zwei
Wochenenden erwartete uns ein reichlich gefülltes und dabei
hervorragend organisiertes Programm.
Am Beginn stand das Kennenlernen von zeitgenössischer Musik.
Die Komponistinnen Elena Mendoza-López und Cathy Milliken
sowie der Komponist David Graham demonstrierten anhand zahlreicher
Beispiele, auf welche Weise Wort und Ton in eine Beziehung treten
können. Anhand von John Cages „Aria“ wurde die
Unmittelbarkeit deutlich, mit der man sich als Mensch charakterlich
über die Stimme mitteilt. Bald schon konnten ein unschuldiges
Kleinkind, eine temperamentvolle Russin, eine Comicfigur und eine
beleibte Opernsängerin hinter den von Cage dargestellten Figuren
erkannt werden. Das Beispiel demonstrierte darüber hinaus,
dass Komponisten auf der Suche nach einer Sprache, die ihre Vorstellung
halbwegs adäquat wiedergibt, manchmal zu ganz eigenen graphischen
Notationsweisen gelangen und – unter der Prämisse, dass
es Sinn hat und für den Interpreten verständlich organisiert
ist – auch gelangen dürfen.
Den Präsentationen folgten stets ausgedehnte Diskussionen,
bei denen wir nicht nur über die soeben kennen gelernten Möglichkeiten
der Wort-Ton-Komposition nachdachten, sondern auch eigene Fantasien
entwickelten.
Das Ausprobieren und Aufschreiben unserer Ideen musste jedoch noch
warten, denn als Nächstes stand eine intensive Instrumentenkunde
auf dem Programm. Diese verlief keineswegs trocken. Im Gegenteil:
Da wir für eine von vornherein festgelegte Besetzung schreiben
sollten, konnten wir uns intensiv mit den Möglichkeiten der
Künstler auseinander setzen. Die Sängerin Karolina Rüegg
klärte nicht nur über ihren Tonumfang und ihre persönlichen
Lagen auf, sondern demonstrierte darüber hinaus einen Reichtum
an Klangfarben in allen Registern sowie die bewundernswerte Fähigkeit,
auch in der Höhe noch sehr leise zu singen. Der Schauspieler
Tom Zahner imitierte im Sinne Cages eine Reihe verschiedener Figuren,
deren Charakter er allein durch seine Stimme darzustellen vermochte,
meist jedoch auch mit seinem ganzen Körper ausdrückte.
Bernd Bolsinger zeigte mit seiner A-, B- und Bassklarinette, wie
die Techniken des „Mundstückglissandos“ und „Zungenpizzicatos“
sowie verschiedene Obertonklänge funktionieren und wirken.
Und die Pianistin Birke Bertelsmeier – die früher selbst
an diesen Workshops teilnahm und nun bei Wolfgang Rihm Komposition
studiert – spielte gleich ganze Werke für präpariertes
Klavier und klärte damit auch über die entsprechenden
Möglichkeiten der Notation auf.
Natürlich standen schließlich die von den Teilnehmerinnen
mitgebrachten Texte und Ideen im Mittelpunkt. Dabei reichte die
Auswahl vom Romanauszug über Kindergedichte, romantische Lyrik
und eigene Werke bis hin zu Auszügen aus dem Bürgerlichen
Gesetzbuch (BGB). Gleich deutete sich also an, dass sehr individuelle
Arbeiten entstehen würden.
Diente das erste der Wochenenden der Ideenentwicklung, sollte die
Zeit bis zum nächsten Treffen genutzt werden, um Vorstellungen
zu konkretisieren und zu notieren. Und es war ganz erstaunlich,
wie intensiv sich manche Komponistin in den zwei dazwischen liegenden
Wochen mit ihrem Stück beschäftigt hatte. Jenen ganz eifrigen
bot sich beim zweiten Zusammenkommen die Möglichkeit, gleich
wieder mit den Künstlern zu arbeiten, die jede spontane Idee
sehr rasch umsetzten und den Mädchen somit bei der Suche nach
dem vorgestellten Klang halfen. Wer wie ich nicht so schnell vorwärts
gekommen war, nutzte die Tage in den bereitstehenden Klavierräumen
der Musikschule zur Klangsuche und die Nächte in der Jugendherberge
zum Notenkritzeln. Dabei boten sich die Dozenten immer wieder zum
Gespräch an – jedenfalls tagsüber.
Jeder arbeitete bei diesem zweiten Treffen auf die Abschlusspräsentation
hin, die am letzten Workshoptag bei Anbruch der Dunkelheit stattfand.
Die drei Musiker und der Schauspieler präsentierten sehr professionell
neun äußerst verschiedene Werke oder Werkanfänge,
die sie alle innerhalb nur eines Tages kennen gelernt und geprobt
hatten. Sie scheuten sich auch nicht, untereinander Rollentausche
vorzunehmen, bei denen der Klarinettist schauspielerte, die Pianistin
sang oder der Schauspieler am Flügel hantierte.
Als Dankeschön für diesen besonders schönen und
intensiven Workshop überraschten die Mädchen am Schluss
mit einem gemeinsam komponierten Werk. Dieses fasste auf humorvolle
Weise den Topos „Wort und Ton“ zusammen: Während
der Zeit hatten wir unbemerkt sämtliche Ausrufe, Anweisungen
und Vorschläge aus den Mündern aller Anwesenden gesammelt
und entsprechend der Definition des Wortes „Komposition“
durch eine der Dozentinnen in ein Stück mit dem Namen „Absichtsvoll
gestaltete akustische Vorgänge“ umgewandelt.
Anne Miebach
Der Kompositionsworkshop für Mädchen und junge Frauen
wird seit 1999 jährlich vom Landesmusikrat NRW veranstaltet
und von der Landesregierung gefördert; die Durchführung
liegt seit 2002 bei Musikprojekte Schwiening & Otten.