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nmz-archiv
nmz 2006/02 | Seite 3
55. Jahrgang | Februar
Magazin
Der universelle Klavierspieler
Keine Spekulationen, keine Kompromisse: Keith Jarrett zwischen
Bach und Improvisation
Keith Jarrett, der nunmehr Sechzigjährige, genießt als
ein Jazzmusiker der besonderen Art hohes Ansehen. Seine Trio-Abende
und mehr noch seine Solokonzerte, von denen zwölf auf zwanzig
CDs festgehalten sind und die seinen legendären Ruhm befestigt
haben, besitzen Kultstatus. Dieser heutzutage zu oft bemühte
Begriff soll eine Ausnahmesituation suggerieren. In Wirklichkeit
verschleiert er nur das Unvermögen unserer Zeit, Zustände
und prozessuale Vorgänge angemessen erkennen zu wollen und
zu können. Durch seine Anwendung werden – meist nur als
Augenblicks-Einstellung – künstlerische Hervorbringungen
grell beleuchtet und infolge kaum anders als oberflächlich
wahrgenommen, statt substanziell erfasst zu werden. Der Eventcharakter
absorbiert die ihnen zukommende Aufmerksamkeit, die damit in bestimmter
Weise kanalisiert wird. So bleibt die Sicht auf Solidität beziehungsweise
außergewöhnlichen Rang einer künstlerischen Leistung
und auf das Verhältnis zwischen beiden verdeckt. Sie zusammen
als das Eigentliche künstlerischer Produktivität verlieren
damit, obwohl Grundpfeiler für jede Beurteilung, zunehmend
an Einfluss.
Setzt
immer auf eindeutige Entscheidungen bei seinen Interpretationen.
Foto: Fumiaki Fujimoto/ECM Records
Weil er überwiegend mit eventartigen Vorgaben und im Vergleich
dazu weniger mit seinem musikalischen Potential zur Kenntnis genommen
wird, wächst Keith Jarretts Ansehen weiter unter dem Aspekt
des Kulthaften. Sein künstlerisches Gesamtbild ist freilich
nur adäquat zu bewerten, wenn das, was er tut, differenziert
und nicht pauschal-oberflächlich rezipiert wird. Er ist ein
Jazzpianist von hohen Graden – das aber nicht ausschließlich.
Er ist vielmehr Pianist im umfassenden Sinn und darüber hinaus
ein universeller Musiker. Soweit zu sehen, ist Jarrett unter dieser
Prämisse nie besonders gewürdigt worden. Allenfalls hat
man seine Universalität als nicht zu leugnende Tatsache akzeptiert.
(Manfred Eicher hat sie auf seinem Label ECM vielfältig dokumentiert.)
Man wird Keith Jarrett in seiner künstlerischen Gesamterscheinung
nicht gerecht, wenn man die Einspielungen, die für ihn als
klassischen Pianisten Zeugnis ablegen, übergeht. Er hat wesentliche
Komplexe des Bach’schen Klavierwerks auf CD vorgelegt, Auszüge
aus Händel-Suiten, die 24 Präludien und Fugen op. 87 von
Schostakowitsch, und er hat sich auch einige Mozart-Klavierkonzerte
(mit Dennis Russell Davies und dem Stuttgarter Kammerorchester als
Partnern) vorgenommen. Mit ihnen forderte er die nicht durchweg
vorurteilsfreie Kritik mit ihren Vorbehalten heraus. Mag man bei
seinen Mozart-Interpretationen einige Angriffspunkte zulassen –
von einem unreflektierten Herunterspielen der Soloparts zu sprechen,
ist so übertrieben wie unrichtig. Stellenweise ist Jarrett
für seine Mozart-Darstellungen in einer Weise abgefertigt worden,
wie sie auch andere Pianisten der ersten Kategorie wie Rudolf Serkin
oder Svjatoslav Richter in Bezug auf Mozart gelegentlich über
sich ergehen lassen mussten.
Beim Bach-Spiel Keith Jarretts ist von unanfechtbarer Eigenständigkeit,
partiell auch von Größe zu sprechen. Es lässt technisch
keine Wünsche offen, ist musikalisch so sorgfältig wie
individuell disponiert, klingt spontan im Zugriff und tendiert andererseits
zum Introvertiert-Bedächtigen. Dass Jarrett vom Konzertflügel
zum Cembalo wechselt – so innerhalb des „Wohltemperierten
Klaviers“ vom ersten zum zweiten Teil –, dass er Kim
Kashkashian in den drei Viola-da-Gamba-Sonaten Bachs auf dem Cembalo
begleitet, die Händel-Suiten auf dem Klavier spielt, Bachs
„Französische Suiten“ und dessen „Goldberg-Variationen“
wiederum auf dem Cembalo – das zeugt neben anderem von dezidierter
Klangempfindlichkeit. Außerdem geht Jarrett mit diesem Instrumenten-Wechsel
jedem konventionellen instrumentellen Zuordnungszwang der Musik
aus dem Weg, ist als strikt individualistisch denkend und planend
zu erkennen. Diese Haltung beglaubigt auch sein Darstellungsstil:
Jarrett spielt die Barockmusik nicht unpersönlich-versachlicht,
wohl aber wohltuend sachlich, was Offenheit herstellt für den
Ausgleich zwischen Emotion und Objektivität. Wer sich so überlegt
Bachs Musik als Interpret widmet, akzeptiert ihre maßstäbliche
Vorbildhaftigkeit. Wie bei Jarrett zu konstatieren, muss die Initiative
hinzukommen, Musik auf eine ihr zustehende Art zum Klingen zu bringen.
Dazu bedarf es eines Zugangs, den nur intellektuelle Zuständigkeit
erschließen kann. Mit Bach ist immer viel herumexperimentiert
worden, und das daraus entspringende Grundverhalten heutiger, vor
allem junger Pianisten, seine Kompositionen als eine Serie von Versuchsanordnungen
vorzuführen, setzt sich – auch bei anderen, aber bei
Bach auffallend – scheinbar ungebrochen fort.
Jarrett hält, wie man sich überzeugen kann, nichts von
solchen Experimenten, von den Schemata, ihn zu schnell oder zu langsam
zu spielen, ihn übertrieben auszuartikulieren oder in überholter
Manier altmodisch zu romantisieren, ihn mithin Modellen zu unterwerfen,
um mit ihnen eine eigene Note zu generieren. Jarrett – das
hört man seinen Aufnahmen klassischer Musik immer an, auch
wenn einem das eine Beispiel näher stehen mag als ein anderes
– ist weder einem Vorbild noch einer Methode verpflichtet.
Er spielt sehr persönlich, prägt den zur Interpretation
ausgewählten Kompositionen aber nicht die von vielen überschätzte
sprichwörtliche persönliche Note auf, die meist nur als
Wiedererkennungsmerkmal fungiert und funktioniert. (Auch die Mozart-Konzerte
hat er eben gerade nicht eigenwillig zu sich herangezogen, sondern
sie zu objektivieren versucht.)
So gewinnen seine Bach-Darstellungen durch ihre Beredtheit einen
originär wirksamen Charakter. Und noch etwas macht Jarretts
Stärke aus: Er entschließt sich, was seine Haltung als
Interpret betrifft, immer zu eindeutigen Entscheidungen, die er
in die pianistische Praxis umsetzt. Das schließt Spekulationen
und Kompromisse – Gegensätze, zu denen manche Pianisten
abschweifen – bei ihm aus. Bachs strukturales Geflecht, das
bei aller Kühnheit der Stimmen-Kombinatorik stets durchsichtig
bleibt, bietet dem verantwortungsbewussten Interpreten zwar sowieso
keine alternative Annäherung. Aber umgangen wird die sich daraus
ergebende Konsequenz für Interpreten laufend, wie einschlägige
Erfahrungen lehren.
Um Keith Jarretts Lebensleistung zutreffend zu würdigen, müssen
die von ihm behandelten Ebenen der so genannten Klassik und des
Jazz zueinander in Bezug gebracht werden. Denn Jarretts grundlegende
Erfahrung mit klassischer Klavierliteratur, vorab mit Bach, hat
seinen in großbogigen Entwicklungssequenzen gehaltenen Stil
als Jazzimprovisator und -komponist beeinflusst und mit der Zeit
durchdrungen. Seine umfassenden Soli sind bestimmt von einer streng
ausgewählten Materialquantität und deren penibler Verarbeitung
im Detail. Sein „Köln Concert“ enthält derartige
dichte Klangstrecken, wie sie sich vor Jarrett nur selten ereignet
haben.
In dem neuen Doppelalbum „Radiance“, was „Glanz
und Leuchten“ bedeutet, aber auch „Strahldichte“,
hat sich demgegenüber doch wieder Neues ereignet. Eine musikalisch-strukturale
Stringenz in den hier wiedergegebenen Mitschnitten zweier Konzerte
(Osaka und Tokio, Oktober 2002) erfüllt seine Improvisationen
mit der nicht überraschenden Spannung, vor allem aber mit einer
sich geradezu anklammernden Präsenz: Sie mit ihren wie aus
dem Nichts gehobenen, danach weit ausholenden und kataraktartig
kumulierenden dynamischen Entwicklungen setzt beim Hören einen
hoch qualifizierten Mitvollzug voraus.
Es gibt in diesem Programm Jarretts keine thematischen und melodischen
Verbindlichkeiten, die zu Anhaltspunkten werden könnten, ausgenommen
einige kürzere Nummern, die manchmal sogar wie Varianten von
Evergreens wirken und als Atempausen fürs Publikum zu verstehen
sein könnten. Der musikalische Fluss in Jarretts Improvisationen
scheint immer wie in einem weiten Schweifflug begriffen, ohne je
beliebig oder willkürlich zu wirken. Das würde ohnehin
dem Bach’schen Prinzip der strengen Satzarbeit widersprechen,
dem sich Jarrett – so behaupte ich – als Arbeitsgrundlage
ganz offensichtlich verpflichtet sieht („es [also: sein Spiel]
kommt mit dem aus, was unbedingt nötig ist“, hat er in
einem Interview angemerkt). Jarrett beschwört in seinen Kompositionen
– denn um solche handelt es sich – sozusagen das stabilisierende
Gerippe und das Nervensystem, lässt nicht ab von der Vorstellung,
konstruktivistisch in Musik zu denken und manches in diesem Prozess
der ergänzungsfähigen Fantasie des eingebundenen Hörers
abzuverlangen.
Es gibt Jazzmusiker, die sich bei der Entwicklung ihrer aus der
Improvisation gewonnenen Kompositionsvorgänge harmonikaler,
rhythmischer und formaler Absicherungen entledigen. Das führt
häufiger, als es günstig erscheint, zu einer Orientierungslosigkeit
im musikalischen Gelände. Nicht so bei Keith Jarrett. Sich
auf Orientierungslosigkeit zu verlassen, wäre kein Weg für
ihn. Denn zweifellos bedarf auch er Sicherheiten, um sich kreativ
ausdrücken zu können. Aber als improvisierender Komponist
bedarf er für seine Musik vorrangig eines Risikos, das freilich
kalkulierbar sein muss.
Deshalb sind bei ihm Zielnahme und Ergebnis identisch, und sie
begründen sich im technischen Vorgehen, das er selbst bestimmt.
Von einer Musik an sich könnte bei seinen besten Improvisations-Kompositionen
gesprochen werden. Die geistige Nähe zu Bach (wie sie auch
die zu Debussy sein könnte, wenn er ihn spielte) scheint unverkennbar
– zu dem Bach, dem zur Vergewisserung seiner selbst die strukturalistische
Durchdringung der klanglichen Materie oberstes Gebot bedeutete.