[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz
2006/02 | Seite 24
55. Jahrgang | Februar
Musikvermittlung
Zielgruppe Schüler wird zur Zielgruppe Mensch
„Response“ – ein tragfähiges Konzept zur
Vermittlung Neuer Musik in Schule und Konzert?
Unter dem Stichwort „Response“ finden hierzulande
vielerorts Workshops und Sonderprojekte zur Auseinandersetzung mit
Neuer Musik statt, deren Gelingen oftmals von der Kooperationsfähigkeit
von Orchestermusikern, Komponisten und Musikpädagoginnen abhängt.
Seinen Ursprung fand „Response“ während der 70er-Jahre
in England. Im Rahmen ihrer Staatsexamensarbeit hat die Autorin
des folgenden Artikels den Stellenwert deutscher und englischer
„Response-Arbeit“ vergleichend untersucht.
Fraser
Trainer mit Schülern. Foto: Markus Tate
Seit Mitte der 90er-Jahre finden in Deutschland musikpädagogische
Projekte statt, die in vielen Fällen unter der Bezeichnung
„Response“ zusammengefasst werden. Den medialen Höhepunkt
einer solchen Workshoparbeit bildete – wenn auch nicht unter
der Bezeichnung – der 2004 erschienene Erfolgsfilm „Rhythm
is it“, der ein gemeinsames Tanzprojekt mit Berliner Jugendlichen,
den Berliner Philharmonikern unter Leitung von Sir Simon Rattle
und dem Tanzpädagogen Royston Maldoon dokumentiert. Der Ursprung
dieser Art von Kooperation zwischen professionellen Musikern/Künstlern,
Kulturinstitutionen und Schulen befindet sich in England. Dort begann
bereits in den 70er-Jahren die Öffnung des Musikunterrichts
für außerschulische Zusammenarbeit.
Warum konnte sich diese Zusammenarbeit in England so viel früher
als in Deutschland etablieren, und woher stammt das frühe Interesse
zu offe-nen Unterrichtsformen? Welche gesellschaftlichen Bedingungen
haben diese Entwicklung unterstützt oder sogar notwendig gemacht?
In welcher Weise fanden die Ergebnisse aus den Erfahrungen Eingang
in Curricula, und welche Resonanz zeigte die musikpädagogische
Debatte des Landes?
Den Ausgangspunkt der englischen Musikpädagogik im 20. Jahrhundert
bildeten zwei Ansätze: Einerseits gab es den idealistisch geprägten
Ansatz von Elisabeth Mills und Thomas Henry Yorke Trotter, in dem
die universalen Lernziele durch eine musikalische Bildung im Vordergrund
standen. Nicht der Erwerb musikalischer Fähigkeiten, sondern
die charakterbildende Wirkung der Musik(-erziehung) war hier wesentlich.
Andererseits gab es eine praktisch orientierte Strömung, wie
sie auch in Deutschland ähnlich zu beobachten war. Hier stand
das schulische Singen im Zentrum des Musikunterrichts – nicht
zuletzt resultierend aus einem Mangel an ausgebildeten Musiklehrern.
Unterrichtsgegenstand sollte die Vermittlung von musikalischem Wissen
durch Hören und Singen von „klassischen“ Werken
der europäischen Kunstmusik sein.
Das kreative Kind im Blick
Doch während sich die deutsche Musikpädagogik nach dem
Zweiten Weltkrieg mit den kritischen Fragen Adornos auseinander
setzen musste und das Schulfach Musik daraufhin „verwissenschaftlicht“
wurde, blieb die Entwicklung in England von starken Brüchen
verschont. In anderen Schulfächern wie Englisch und Kunst wurden
in diesen Jahren bahnbrechende Veränderungen vorgenommen. Im
Mittelpunkt des Unterrichts sollte nunmehr das sich selbst ausdrückende
und kreative Kind stehen. Diese Überlegungen erreichten die
musikpädagogische Debatte und den Musikunterricht selbst in
der Breite zwar erst 20 Jahre später, sie waren jedoch ein
wesentlicher Auslöser für die gedankliche Auseinandersetzung
mit dem Akt des Komponierens als einem wichtigen Bestandteil umfassenden
Musikunterrichts. Nachdem einige Komponisten wie etwa Peter Maxwell
Davies in den 70er-Jahren als „composer-teachers“ innovative
Anstöße für den Musikunterricht geben konnten, wurde
die methodische und didaktische Diskussion dieses Verfahrens durch
Paynter und Aston in dem Buch „Sound and Silence: Classroom
Projects in Creative Music“ auch auf theoretischer Ebene geleistet.
So kam es, dass bei der endgültigen Fassung des Curriculums
für das Fach Musik im Jahr 1994 insgesamt vier Lernziele aufgenommen
wurden. 50% des Unterrichts sollen dem Hören und Verstehen
gelten, die anderen 50% dem eigenen musikalischen Handeln und –
man höre und staune – dem Komponieren.
Für die weitere Entwicklung und den großen Erfolg der
Projekt- und Workshoparbeit in England spielt des Weiteren die Art
der Kulturfinanzierung eine entscheidende Rolle. Schon in den 80er-Jahren
wurde eine Zusammenarbeit mit Sponsoren aus der Wirtschaft gefördert,
zum Beispiel im sogenannten „Pairing Scheme“, in dem
für jedes privat investierte Pfund der Staat ein weiteres hinzugab.
Im Jahr 1993/94 kamen 48 Prozent der Einnahmen englischer Kulturinstitutionen
aus der öffentlichen Hand. Im gleichen Zeitraum waren es in
Deutschland 87 Prozent. Dagegen stehen im selben Jahr die Zahlen
der eigenen Einnahmen in England bei 42 und in Deutschland bei nur
12 Prozent. Aus diesen Zahlen resultiert eine wesentlich größere
Notwendigkeit für englische Künstler, Orchester und Institutionen,
auch gewinn- und zielorientiert zu arbeiten. Unterstützt wird
dieses wirtschaftliche Selbstverständnis durch eine völlig
andere Vertragspolitik sogar großer Orchester: Es gibt kaum
feste Verträge, sondern die Musiker werden von Woche zu Woche
gebucht. Damit wird aber gleichzeitig eine relative Gleichwertigkeit
pädagogischer Projekte im Verständnis der Musiker erreicht
– wer zuerst bucht, bekommt die Leistung, egal ob Proms-Konzert
oder Schulprojekt.
Vorreiter London Sinfonietta
Vielleicht das wichtigste Ensemble für die Entwicklung der
Workshop-Projekte seit ihrem Beginn ist das Neue-Musik-Ensemble
„London Sinfonietta“. Angewiesen auf das Verständnis
und Interesse eines verwöhnten Londoner Publikums für
Neue und unerhörte Musik, gehen von dem Ensemble immer wieder
innovative Impulse für die Zusammenarbeit mit verschiedenen
Bevölkerungsgruppen aus. Auch wenn die einzelnen Projekte sich
mitunter stark voneinander unterscheiden, so werden doch einige
Grundsätze im Aufbau der Workshops deutlich. Zunächst
wird vom Workshopleiter und dem Ensemble ein bestimmtes Werk, ein
Komponist oder ein Thema festgelegt, zu dem Informationsmaterialien
für alle Beteiligten bereitgestellt werden. Meist wird eine
einzelne Komposition herausgegriffen und ihre typischen Kompositionsparameter
werden isoliert. Anhand dieser Parameter werden praktische Übungen
sowie Kompositionsübungen vorbereitet, die in vier- oder fünfmal
wöchentlich stattfindenden Workshops mit der Gruppe erarbeitet
werden. Zum Schluss wird die gemeinsame Komposition bei einem Konzert
oder einer Veranstaltung präsentiert. Genauso wichtig allerdings,
wie die eigene praktische Auseinandersetzung, ist die Begegnung
mit der Musik des ausgewählten Komponisten, die im Anschluss
an den Workshop in einem Konzert der London Sinfonietta erlebt werden
sollte. Die Krönung bildet bei manchem Konzert gar eine Begegnung
mit dem Komponisten selbst! Zwei Grundsätze stehen für
das Ensemble fest: Erstens die Qualität der Musik, Musiker
und der Komponisten sowie deren Ernsthaftigkeit im Umgang mit den
Workshopteilnehmern. Zweitens die Integrität im Umgang mit
der zeitgenössischen Musik. Das musikalische Material soll
nicht aufgeweicht oder vereinfacht werden, um es den Laien näher
zu bringen, denn das Ensemble glaubt fest an die Kraft der ursprünglichen
musikalischen Sprache lebender Komponisten für alle Menschen.
Es liegt im Interesse der London Sinfonietta, die Ergebnisse ihrer
Arbeit möglichst transparent zu machen oder sogar zum Nachunterrichten
aufzubereiten. Daher stellen sie einige Projekte, inklusive Musikbeispielen,
auf ihrer Homepage vor.
Response im Vergleich
Worin genau liegt der Unterschied der Projekte der London Sinfonietta
zu deutschen Response-Projekten – oder gibt es vielleicht
gar keinen?
Zunächst einmal fallen inhaltliche Unterschiede auf: Während
für das Konzept der London Sinfonietta eine thematische Anbindung
an ein konkretes Werk oder einen konkreten Zusammenhang essentiell
ist, geht dieser Aspekt in deutschen Projekten zuweilen verloren.
Es ist wichtig, dass musikalische Erfahrungen nicht Beliebigkeit
erwecken, sondern ein Bezug zur musikalischen Lebenswelt hergestellt
wird. Dies wird bei der London Sinfonietta durch den anschließenden
Konzertbesuch gewährleistet, in dem die Teilnehmer die professionelle
Arbeit eines „richtigen“ Komponisten erfahren und kennen
lernen können. Auch hier mag es in Deutschland zuweilen noch
an Konsequenz mangeln. Es gibt auch organisatorische Unterschiede:
Während die London Sinfonietta ihre erfahrensten Musiker und
ausgebildete Workshopleiter für die Projekte zur Verfügung
stellt, werden diese Aufgaben in Deutschland – mit einigen
finanzstarken Ausnahmen – inzwischen eher von kleinen, regionalen
Ensembles und Privatpersonen durchgeführt. Sicher kann deren
Arbeit auf höchstem Niveau stattfinden, aber es fehlt anscheinend
immer noch die Einsicht großer Ensembles und Orchester in
die Relevanz dieser pädagogischen Arbeit. Zudem wird auf diese
Weise eine Überprüfung und Verbesserung der pädagogischen
Fähigkeiten der Beteiligten erschwert, was zu Projekten von
recht unterschiedlicher Güte führt. Auch in der Dokumentation
und Pressearbeit müssen vielerorts aus finanziellen Gründen
noch Wünsche offen bleiben.
Transfer nach Deutschland
Welchen Stellenwert kann Response im Musikunterricht und in der
deutschen Kulturlandschaft weiterführend einnehmen?
Eine Workshoparbeit nach dem englischen Prinzip kann vielen Anforderungen
an einen guten Musikunterricht gerecht werden. Die systematische
Beschäftigung mit musikalischen Parametern, die kontinuierliche
Arbeit an einer gemeinsamen Komposition und der Schwerpunkt auf
selbst handelndes Erschaffen von Musik lassen Response vielleicht
sogar als Musterbeispiel für gelungenen Unterricht erscheinen.
Gerade für die Bildung musikalischer Grundkompetenzen erscheint
die Workshoparbeit ideal, sie kann jedoch keinesfalls einen jahrelangen
Musikunterricht ersetzen. Durch die Projekte können sich Workshopteilnehmer
allerdings ein Stück zeitgenössischer Kultur zu Eigen
machen und einschätzen lernen. Selbstverständlich kann
auch ein Response-Projekt scheitern, wenn die pädagogischen
Fähigkeiten oder das Interesse der Verantwortlichen zu wünschen
übrig lassen, das Konzept nicht ausgereift ist, es an einer
vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Lehrern und Musikern mangelt
oder eine Unterstützung durch die Schulleitung fehlt.
Doch könnte es ein erstrebenswertes, wenn auch idealistisches
Ziel sein, jedem Schüler im Rahmen seiner Schullaufbahn die
Teilnahme an mindestens einem solchen musikalischen Projekt zu ermöglichen.
In den ganzheitlichen Vorstellungen der englischen Musikpädagogik
steht die kreative Entwicklung des Kindes als ein wichtiger und
unverzichtbarer Bestandteil seiner Persönlichkeit gleichwertig
neben einer Ausbildung musikrezeptiver und -analytischer Fähigkeiten.
Es wäre wünschenswert, wenn auch die deutsche Musikpädagogik
diesen Schritt konsequent vollziehen könnte. Anstatt sich zu
bemühen, das Fach Musik im Fächerkanon überwiegend
durch seine theoretischen Bestandteile zu legitimieren, sollte eine
Würdigung der genuinen Möglichkeiten des Musikunterrichts
geschehen.
Für die Zukunft bleibt zu wünschen, dass sich neben
Orchestern und Sponsoren auch die Musikhochschulen selbst verstärkt
für eine Integration von Workshoparbeit in die didaktische
und methodische Lehrer-, Komponisten- und Orchestermusikerausbildung
einsetzen. Eine qualitative Absicherung von Response-Workshops mit
Mindeststandards und eine Öffnung der Zielgruppe „Schüler“
hin zur Zielgruppe „Mensch“ sollten möglichst bald
geschehen.