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nmz-archiv
nmz 2006/02 | Seite 40
55. Jahrgang | Februar
Bücher
Furchtloser Streiter für die Individualität
Der zweite Teil des dritten Bandes von Ulrich Schreibers Opernführer
Ulrich Schreiber: Opernführer für Fortgeschrittene.
Die Geschichte des Musiktheaters. Das 20. Jahrhundert,
Bd. 3/1: Von Verdi und Wagner bis zum Faschismus, Bärenreiter-Verlag,
Kassel 2000. 772 S., € 45,00. ISBN 3-7618-1436-4; Band 3/2:
Deutsche und italienische Oper nach 1945, Frankreich, Großbritannien,
Bärenreiter-Verlag, Kassel 2005. 727 S., € 47,50. ISBN
3-7618-1437-2
Lange war er angekündigt, nun ist er erschienen: der zweite
Teil des dritten Bandes von Schreibers Opernführer für
Fortgeschrittene, der den bereits erschienenen Teilband 3.1 weiterführt.
Um was geht es? Um nichts weniger als die bislang vernachlässigte
Geschichte des Musiktheaters im 20. Jahrhundert. Als wolle er im
Niemandsland seine Rosen bestellen, liefert Schreiber eine Kultur-
und Ideengeschichte, die in keiner Weise selbstverständlich
ist. Handelte er im ersten Teilband das deutsche und italienische
Musiktheater nach Wagner und Verdi bis zum Faschismus ab, so führt
er diese Entwicklung im Folgeband bis an die Gegenwart heran und
ergänzt sie um Darstellungen der französischen und englischen
Operngeschichte. Eine Bravourarie schon von der Anlage her. Über
250 Einzelwerkbesprechungen, Glossare, Opernregister und Personenverzeichnisse,
die selbst noch von Adenauer bis Zuckmayer diejenigen zu rubrizieren
wissen, die erst auf den dritten Blick etwas mit der Oper im 20.
Jahrhundert zu tun hatten.
Die Irritation, die durch den Titel dieses Buches erzeugt wird,
sagt viel über es aus. Zähle ich zu den Fortgeschrittenen
(bange Frage)? Schreiber setzt offenbar einiges voraus, ein Lehrer
nicht der Grund-, sondern der Hochschule, dessen Lebendigkeit aus
dem Verfahren erwächst, Adepten motivieren zu müssen.
Sein Werk ist demnach kein Brevier, das sich in der Opernpause konsultieren
ließe. Und natürlich steht ein Opernführer quer
zu einer Operngeschichte. Wer das eine sucht, muss das andere nicht
unbedingt wollen. Schreiber schließt kursorische Lektüre
nicht aus und liefert doch weder bündige Inhaltsangaben noch
Komponistenporträts; er analysiert Musik, allerdings Notenbeispiele
sucht man bei ihm vergebens. Aber: Disparitäten wie Straussens
„Rosenkavalier“ und Pfitzners „Rose vom Liebesgarten“
lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. Will sagen: Hinter Schreibers
definitorischer Unruhe verbirgt sich ein furchtloser Geist, der
darauf zielt, den diversen Äonen, die dem 20. Jahrhundert auch
in der Oper eingesprengt waren, ihr Individualrecht zu lassen.
Die Sortierung ist gediegen. Im Vordergrund steht der „Kunstwerkcharakter
der behandelten Opern“, Schreiber bringt einen Cocktail teils
chronologisch, teils geographisch geordneter Werkanalysen, die um
die „Repertoiresäulen“ Strauss, Puccini (Bd. 3.1)
und Britten (Bd. 3.2) gruppiert sind. Sicher bleibt er damit Antworten
schuldig, etwa auf die Frage, wieso solch akute Werke wie „Wozzeck“,
„Die Soldaten“, „Intolleranza“, „Das
Mädchen mit den Schwefelhölzern“ nicht auf ähnliche
Weise herausgehoben werden. Doch seine Darstellung bleibt übersichtlich,
und tendiert sein Mut stilistisch auch zum Übermut, so muss
man bei ihm nur mitdenken, dass die Liebe, selbst die fachliche,
noch immer zu den anstrengendsten Tätigkeiten gehört.
Berichte aus der Praxis sind nicht zu erwarten. Von der Auflistung
berühmter Sänger und Inszenierungen abgesehen, wagt Schreiber
nicht den Ausfallschritt auf die Bühne. Das Szenische wird
gegenüber dem Musikalischen objektiv vernachlässigt, ein
Manko dies, wenn man von der zwar ungleichen, aber doch resistenten
Schwesternschaft des Musik-Theaters ausgeht.
Verwunderlich auch, dass Schreiber, der mit Puccini anhebt, nicht
mit dem endet, was das „Präsens des Musiktheaters“
zu nennen wäre. Im Glossar wird das Wort „Ghetto-Blaster“
erwähnt, nur – hätte man nicht lieber den PC erklärt?
Was ist mit Cyberstage-Opern, Intermedialität, Animation, Hypertextur?
Oper heute reagiert auf veränderte Produktionsbedingungen,
nimmt sich neuer Techniken an und generiert soeben einen Paradigmenwechsel.
Über „Saint François d’Assise“ heißt
es: „Wie immer man Messiaens Oper gegenübersteht: Sie
ist, gerade in der Unschärferelation zwischen katholischem
Weltbild und individuellem Schöpfertum, ein Dokument des Widerstands
gegen die Verflüchtigung kultureller Zusammenhänge im
Zeitalter des globalen Cyberspace.“ Ja. Und nein! Denn wie
immer man dem Cyberspace gegenübersteht: Auch er bezeichnet
nur eine neue Unschärferelation zwischen Weltbildreligion und
Schöpfergeist und ist selbst ein Dokument globalen Protestes.
Hier begnügt sich Schreiber mit einem traditionellen Blick
auf jene Moderne, die die Tradition zersprengte.
Doch was auch fehlt, man muss es nicht vermissen. Schreiber vermittelt
Wissen, nicht Information. In einer Epoche, die sich selbst das
Informationszeitalter nennt, konnte der Oper nichts Besseres passieren.