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nmz-archiv
nmz 2006/02 | Seite 38
55. Jahrgang | Februar
Rezensionen
Farben, Klänge, Gerüche
Eine neue DVD-Reihe mit Komponisten- und Werkporträts
Die Anspannung kann man an den Mienen aller Beteiligten ablesen:
einem einigermaßen überforderten Chor, einem Orchester,
das langsam aber sicher die Geduld verliert, dem ohnehin etwas freudlos
wirkenden Myung-Whun Chun, der irgendwann nur noch den Kopf schüttelt,
und schließlich dem Komponisten selbst. Ein wenig unsicher
tritt er aus dem Hintergrund, abwägend, ob sein Eingreifen
nun hilfreich sein oder zusätzliche Verunsicherung bringen
könnte. Dazwischen geschnitten eine kurze Sequenz: Eine Nonne
zupft die Lilien zurecht, bevor sie Arvo Pärt erlaubt, diese
vor das Grab der Heiligen Cäcilia zu legen, der auch das zur
Uraufführung anstehende Werk gewidmet ist: „Cecilia,
vergine romana“.
Diese lange Probensequenz ist einer von drei Bonusfilmen, die Dorian
Supins Porträt „24 Preludes for a fugue“ enthält,
ein Porträt, das sich im durch und durch musikalischen Rhythmus
aus oft nur schlaglichtartigen Episoden und Interviewausschnitten
zusammenfügt. Pärt auf einem Handwerkermarkt, den Duft
der Heimat aus einer Holzschachtel einatmend („Schade, dass
die Kamera nicht riechen kann“), beim Versuch, Studenten sein
Schlüsselwerk „Für Alina“ zu erklären
(„Ich wollte mich auf jeden Ton konzentrieren, sodass jeder
Grashalm den Status einer Blume bekommen würde“) oder
in einem Kreuzgang mit Brunnen („Der Klang ist hier so schön,
könnt Ihr das aufnehmen?“). Und immer wieder Probenausschnitte,
die zeigen, wie schwierig die expressive Schlichtheit seiner Musik
herzustellen ist.
Mit insgesamt acht Komponisten- bzw. Werkporträts auf fünf
DVDs startet „Ideale Audience“ sein neues Label „juxtapositions“,
und die anderen Filme stehen nur wenig hinter der atmosphärisch
so selbstverständlich gelungenen Pärt-Annäherung
zurück.
Wir begleiten Philip Glass durch sein New York, lassen uns noch
einmal erzählen, wie das damals so war in den Lofts, als seine
Musik noch nicht in den großen Konzertsälen der Welt
gespielt wurde, und erfahren von Bob Wilson etwas über die
Konstruktionspläne ihrer Gemeinschaftsarbeiten.
Wir lassen uns von Luciano Berio in die Zitatverdichtungen im
dritten Satz seiner „Sinfonia“ hineinführen, von
Michael Gielen in die Farbwelten von Schönbergs Orchesterstücken
op. 16 sowie von Reinbert de Leeuw und Robert Craft in das asketische
Baukastenprinzip von Strawinskys „Symphonies pour instruments
à vents“.
Diese drei Werkbetrachtungen hat der Niederländer Frank Scheffer
mit gutem Gespür für die Balance zwischen erläuternden
Textelementen und sinnlicher Vermittlung gedreht. Schade nur, dass
die deutschen Untertitel den ein oder anderen groben Schnitzer enthalten.
So entbehrt es nicht einer gewissen Absurdität, Gielens englische
Kommentare zu Schönbergs Quartenakkord als „Viertelakkorde“
übersetzt zu bekommen.
Ein Ankerpunkt in Scheffers musikdokumentarischen Arbeiten ist
die Musik Gustav Mahlers und ihre reiche Aufführungstradition
in Amsterdam. „Conducting Mahler“, entstanden beim Mahler-Festival
1995, wagt eine sinfonische Gesamtschau, wobei freilich in einem
einstündigen Film die Persönlichkeiten und Interpretationsansätze
so unterschiedlicher Dirigenten wie Bernard Haitink, Simon Rattle,
Claudio Abbado, Riccardo Muti und Riccardo Chailly kaum mehr als
angedeutet werden können.
Ergiebiger ist da schon die auf der gleichen DVD vorgenommene
Fokussierung auf Mahlers Neunte. Riccardo Chailly und Mahler-Koryphäe
Henry-Louis de la Grange erweisen sich als kluge Wegweiser durch
diese Summe Mahler’scher Sinfonik, deren Einspielung für
Riccardo Chailly gleichzeitig den durchaus symbolischen Abschied
vom Concertgebouw Orchester markierte. Am Wirkungsort Willem Mengelbergs,
aus dessen Partituranmerkungen Chailly immer wieder wichtige Einsichten
schöpft, durchzog die Auseinandersetzung mit dem ersten modernen
Sinfoniker seine 16-jährige Tätigkeit als Chefdirigent
des Orchesters wie ein roter Faden. Ihre besondere Beziehung wird
in einem weiteren Film Scheffers thematisiert, „Attrazione
d’Amore“. Man lernt dabei Chaillys sehr bewussten Umgang
mit Aufführungstraditionen kennen, mit denen sich auseinanderzusetzen
er für unabdingbar hält: „Wie soll man etwas erneuern,
wenn man nicht weiß, was man erneuert?“ ist ein Kernsatz
seiner Musikauffassung, die durchaus mit Berios weit mehr als nur
collageartigem Umgang mit wörtlichen Musikzitaten in der Sinfonia
korrespondiert. Insofern rundet die Kopplung mit dem Berio-Film
„Voyage to Cythera“, der seinerseits aus den Werkporträts
zu Schönberg, Strawinsky und Mahler zitieren kann, diese kleine
Reihe innerhalb der Reihe aufs Schönste ab.
Juan Martin Koch
Diskografie
Attrazione d’amore (Riccardo Chailly, Concertgebouw Orchestra)
/ Voyage to Cythera (Luciano Berio, Sinfonia). Regie: Frank Scheffer,
Ideale Audience 1
Conducting Mahler / I have lost touch with the world (Mahler,
9. Symphonie). Regie: Frank Scheffer, Ideale Audience 2
The Final Chorale (Igor Strawinsky) / Five Orchestral Pieces (Arnold
Schönberg). Regie: Frank Scheffer, Ideale Audience 3
24 Preludes for a Fugue (Arvo Pärt). Regie: Dorian Supin,
Ideale Audience 4
Looking Glass (Philip Glass). Regie: Eric Darmon, Ideale Audience
5 (Vertrieb: Naxos)