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nmz-archiv
nmz 2006/02 | Seite 42
55. Jahrgang | Februar
Rezensionen
Alte Füchse legen Karten auf den Tisch
Neue Popplatten nach dem neuen Jahr
Silvester, Neujahr, zwischen den Jahren. Nie ist die Branche stiller
als zu dieser Jahreszeit. Da lohnt ein Blick, oft ein zweiter, auf
die gerade veröffentlichten Alben. Wenn die Marketing- Abteilungen
noch im Schneeurlaub schwelgen oder zwischen Palmen hängen.
Oder von selbigen herabbaumeln, weil das Jahr vorher merkantil erfolglos
war.
Ihn wird das wenig interessieren. Ryan Adams, der rotzige Songwriter
aus Blues, Herzschmerz und New York, verwöhnte uns 2005 mit
drei Alben. „29“ nennt er sein bittersüßes
Album. Country, Folk, Rockabilly sind die Grundmanifeste. Adams
jauchzt, stöhnt, heult, lacht oder japst. Antörnend, weil
Blutschweiß getränkt. Völlig different gehen die
Norweger Royal Rooster vor. Sie gatzen nicht lang herum auf „Rescued
By Rock’n’Roll“ und legen die Karten auf den Tisch:
Sie sind Fans der 70er-Rocker. Led Zeppelin, Kiss und ähnliche
Kameraden tauchen in den Songs auf. Aber sie werden nicht zu Götzen
stilisiert. Vielmehr panschen Royal Rooster das mit Humor, Ironie
und Lockerheit. Ein rockiges Tanzalbum für Frechdachse.
Alte Füchse sind Our Lady Peace aus Kanada. Zehn Jahre alt,
drei Jahre Plattenpause hinter sich. Nun aber das beste Album der
Band aller Zeiten: „Healthy in paranoid Times“. Es könnte
sie nach oben katapultieren. Raus aus der Nische des Geheimtipps
aller Geheimtipps. Bob Rock (u.a. Metallica) hat produziert und
das Letzte aus OLP herausgekratzt. Songs voll magischer Melancholie.
Kurzweilig, aber traurig. Fassend, aber nie umarmend. Grandios ist
Sänger Raine Maida. Er startet die Sucht vom ersten Song an.
Wahrer und ehrlicher Alternative-Rock. Bestaunenswert. Schon alleine
weil Howie Beck, der nächste Kanadier im Plattenreigen, unaufhörlich
die Selbstherrlichkeit der Phonoindustrie anprangert, muss er gehört
werden. Der Songwriter setzt mit dem Album „Howie Beck“
eine weitere Spur in den Sand seines Debüts „Hollow“.
Zeitlos schöne Songwritermusik. Zu dornig um im Allerlei zu
landen, aber nie verbittert. Musik für den baldigen Übergang
in was auch immer.
Fall Out Boy tauft sich eine US- Band, nimmt ein Demo auf und
erregt die Aufmerksamkeit des amerikanischen Rolling Stone. „Viel
versprechend“ glaubt der, wäre die Band. Und: Der RS
hat nach vielen falschen Einschätzungen mal wieder Recht. „From
Under The Cork Tree“ empfängt uns mit unkompliziertem
Punkrock, der nie abgekupfert wirkt. Fall Out Boy nimmt geschickt
und oft das Tempo aus der Brise, verweilt in romantischen Gesangsharmonien
und verstrickt sich nie in plumpen Riff-Schrubbereien. Angemessener
Punkrock mit Wehmut.
99-mal heißt es die Vorspieltaste drücken (Erklärung
bei Kauf), möchte man Danko Jones neues Werk „Sleep is
the Enemy“ abkürzen. Das an sich wäre eine Frechheit,
denn den Trotzrocker hat man ja längst für sich lieb gewonnen.
Geprägt von AC/DC, Henry Rollins oder Lenny Kravitz geht man
mit Danko Jones in den Ring. Strukturierte Riffs, rockige Gesänge.
Stets umgeben vom Flair der Rockwelt. Also kleine, nach Schweiß
duftende Clubs. Als Hardrocker fühlt man sich schnell sauwohl
mit diesem Pfund vom dritten Kanadier der monatlichen Plattenrunde.
Ein schönes deutsch gesungenes Songwriteralbum („Zwischen
Heimweh und Fernsucht“) stellt Pohlmann vor. Lakonisch, melancholisch,
aber mit dem nötigen Ernst. Auf keinen Fall ist das Pop. Es
ist, was Songwriter eben so schreiben. Akustikgitarre, mal derb,
mal romantisch, mal bluesig, mal kantig, mal rutschig, zuweilen
schrubbend, dann obergärig. Eine Art „Selig unplugged“
oder „Kung-Fu light“; sollte noch irgendjemand eine
dieser Franz-Plasa-Bands kennen. Mit Pohlmann geht es vorwärts.
Auch wenn es langsam bleibt. Bitte anhören.
Brit-Pop funktioniert genauso gut deutsch. Wie? Ja, Photonensurfer
und ihr Album „Neue Weltordnung“ schämen sich nicht
und geben ihre britische Pop/Rock-Vorliebe offenherzig zu. Aber,
abgepaust wird nicht bei Photonensurfer. Es gibt Bruchstücke
von Oasis, Blur, Radiohead (den guten, frühen Radiohead wohlgemerkt),
I am Kloot oder ähnlich seriösen Britbands. Ein Album,
das insbesondere durch einen schönen Fluss, eine einheitliche
Stimmung besticht und nicht so marktschreierisch auf deutschen Ernst
getrimmt wurde. Man ließ der Band ihre Authentizität.
Danke dafür. Für Hörer, die gerne mal ein bisschen
in Songs versinken möchten.
Ein deutsch-polnisches Erlebnis findet man in der Kompilation Miedzy
Nami Café, benannt nach einem kleinen Laden in Warschau,
der Künstlern als Schmelztiegel dient. Dort trinken, essen
und „künstlern“ sie. Grund genug, dieses Flair
musikalisch einzufangen. Artisten wie Under Pressure, One Self,
Telepopmusik, One Million Dollars, Herbaliser, Handsome Boy Modelling
School oder Stina Nordenstam geben Tracks – wie man wohl so
sagt – zum Besten. Es wurde eine extrem hörenswerte Melange
aus Elektropop, Relax-Musik, Jazzartpop oder Chillout-Fragmenten.
Ja, man könnte es Patchwork nennen. Europäisch zusammenwachsend,
diese Zusammenstellung. Mit alten Bekannten der 80er endet das Plattenkarussell
für Februar. Die Cutting Crew findet nach Irrwegen, Enttäuschungen,
Abfuhren und Täuschungen wieder zusammen. „Grinning Souls“
zeigt eine Popband, die Narben der Branche und des Lebens auf dem
Herzen trägt und nicht verhehlt. Zeitloser, schöngeistiger
und sperriger Pop bildet das Gerippe. Dazu kommt, dass die Crew
eine famose Songwriter-Band wurde, aus dem vollen Erfahrungsschatz
wirken kann und so weder in Pop-Langweile oder Dudelei verfällt.
Anspruchs-Pop somit, den man im Jahr 2006 gerne mal wieder öfter
hören mag.
Sven Ferchow
Diskografie
• Ryan Adams: 29 (Januar 2006, Lost Highway)
• Royal Rooster: Rescued By Rock’n’Roll (Januar
2006, Dustbowl Sounds)
• Our Lady Peace: Healthy in paranoid Times (Februar 2006,
Columbia)
• Howie Beck: Howie Beck (Februar 2006, Rough Trade)
• Fall Out Boy: From Under The Cork Tree (Februar 2006,
Island)
• Danko Jones: Sleep is the Enemy (Februar 2006, Bad Taste
Records)
• Pohlmann: Zwischen Heimweh und Fernsucht (Februar 2006,
Virgin)
• Photonensurfer: Neue Weltordnung (Februar 2006, Motor)
• V.A.: Miedzy Nami Café (Februar 2006, Audiopharm)
• Cutting Crew: Grinning Souls (Februar 2006, Hypertension)