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nmz-archiv
nmz 2006/05 | Seite 11
55. Jahrgang | Mai
Forum
Mauricio Kagel schreibt an den C.F. Peters Verlag
Offener Brief zum geplanten Umzug des Frankfurter Traditionsverlags
nach Berlin
Das Sprichwort „Alte Bäume soll man nicht verpflanzen“
ist nicht nur Ergebnis jahrhundertelanger Erfahrungen, sondern darüber
hinaus ein Hinweis auf einen Angriff auf die Existenz. In Zeiten
des Internets sind die Standorte der Unternehmen stark relativiert
worden. Es ist nicht mehr außergewöhnlich, dass Geschäftsverbindungen
nur elektronisch stattfinden und man gar nicht mehr hinschaut, an
welchen Orten die Firmen ansässig sind.
Aber: Nach Berlin gehen zu wollen, weil dort augenblicklich musikalisch
mehr los ist als in Frankfurt, ist ein Trugschluss. Bis zur Wende
lebte Berlin in einem Biotop, das geradezu das Fortleben giftiger
Nährstoffe ermöglichte.
Das Musikleben dieser Stadt leidet jetzt im Vergleich zum Rest
der Republik proportional mehr als die meisten anderen Städte.
Dazu kommt, dass ein Vergleich Berlin/Frankfurt, wenn man es au
pied de la lettre nimmt, geradezu unfair ist. Frankfurt ist zugleich
Wiesbaden und Mainz und Mannheim und Heidelberg und Karlsruhe und
Koblenz und (…). Diese Vielfalt und Unabhängigkeit der
Städte ist der Schlüssel ihrer Widerstandsfähigkeit
gegen die unleugbare schleichende Krise.
In diesen Zeiten den Schatz an Wissen und Erfahrung, den die Mitarbeiter
täglich beweisen, durch einen Umzug aufs Spiel zu setzen, ist
mehr als bedenklich. Das Risiko, dass C.F. Peters in Berlin mit
einer rachitischen Mannschaft seine Verlagsarbeiten fortsetzen muss,
ist die wahre Existenzbedrohung des Unternehmens.
Wenn man von Tradition spricht, so glaube ich, muss man immer
an zwei Stränge denken. Der eine ist die Bewahrung derselben,
der zweite ist der offene, oft aber versteckte Angriff. Die nationalsozialistische
Unkulturpolitik, der spätere Umzug nach Frankfurt und der Neubeginn
haben unserem Verlag übermäßig stark zugesetzt und
Vieles in Frage gestellt. Da ich fast 50 Jahre lang mit C.F. Peters
verbunden bin, weiß ich genau zu schätzen, was man in
dieser Zeit geleistet hat, um die Editionen und Geschäftsverbindungen
wieder aufblühen zu lassen. Ich spreche nicht aus dem Gefühl
heraus, wenn ich voraussage, dass der Umzug nach Berlin zugleich
ein freiwilliger Trauermarsch sein könnte. Ob man dort einen
Ehrenfriedhof für die Beerdigung des wertvollen Sarges findet,
bleibt offen. Leichen werden in Berlin nicht subventioniert.