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nmz-archiv
nmz 2006/05 | Seite 15
55. Jahrgang | Mai
Gegengift
Das große Massakerspiel
Pädagogen und Psychologen sind sich zumindest in einem einig:
Wie wichtig es ist, Realität und Fiktion auseinanderhalten
zu können. Wer das nicht kann, wer in seiner Scheinwelt lebt
statt in der wirklichen, wird in seinem Leben Schiffbruch erleiden
oder, noch schlimmer, über kurz oder lang in der Psychiatrie
landen. Wie aber steht es um einen Kultur- und Politikbetrieb, deren
Protagonisten sich zunehmend von ihren Wünschen und Wunden
leiten lassen, als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt?
Gerhard Stadelmaier zum Beispiel, wortgewaltiger FAZ-Kritiker
und schon Held der letzten „Gegengift“-Kolumne, weiß
nichts von Guantanamo und Abu Ghraib, von den Millionen Toten in
Ruanda, im Kongo oder im Sudan, von den tagtäglichen Entsetzlichkeiten
eines diffusen Weltbürgerkriegs. Für ihn findet das „große
Massakerspiel“ auf einer Nebenbühne des Frankfurter Schauspiels
statt. Das Grauen hat ein Schauspielergesicht und einen Namen, Thomas
Lawinky, der zumindest von den Gehaltslisten gestrichen werden muss.
Und was ihm passiert ist, nennt die „Frankfurter Allgemeine“
in gutbürgerlichem Understatement auf ihrer Titelseite einen
„Anschlag“. Wer daraufhin um Leben und Gesundheit Stadelmaiers
fürchtet, wer vor seinem geistigen Auge schon Blut fließen
sieht, den wird die Frontberichterstattung auf der ersten Feuilleton-Seite
beruhigen. Alles nur Theater! Und auch der Theaterkritiker wurde
nicht leibhaftig zerfetzt, es wurde ihm nur ein Stoffschwan in den
Schoß gelegt und eine schreibende Phantasieleistung abverlangt
(„Schreib, dass es ein schönes Kind ist“) und,
als er sich so gar nicht rühren wollte, der Schreibblock kurz
aus der Hand genommen. Lawinky: „Mal sehen, was der Kerl geschrieben
hat.“ Stadelmaier, noch im Rückblick schaudernd: „Ich
hätte mich verletzen können.“ Es handelte sich nämlich
um einen Spiralblock, bekanntlich eine gefährliche Waffe. Was
den divenhaft seine Theaterbastion räumenden Kritiker besonders
empörte, war der „Nachruf“, den ihm Lawinky gönnte:
„Hau ab. Verpiss Dich, Du Arsch.“ Was draußen
vor der Theatertür eine Beleidigung sein mag, drinnen aber,
vom frühen Peter Handke („Publikumsbeschimpfung“)
bis zum späten Thomas Bernhard schlicht zum Repertoire gehört.
Was Stadelmaier offenbar nicht begreifen kann oder will: dass
Stoffschwäne und böse Worte auch dem Publikum gegenüber
zum spätestens von Artaud gründlich entrümpelten
Theaterfundus gehören – eine Krone auf der Bühne
ist keine wirkliche Krone und ein „Arsch“ aus Schauspielermund
kein wirklicher Arsch – während ein entlassener Schauspieler
wirklich auf der Straße steht, wenn ihn nicht das „große
Massakerspiel“ der Presse unversehens zum Helden macht: die
Version eines Ionesco-Stücks, die jetzt keine mehr sein darf,
weil die Rechteinhaber protestieren, heißt jetzt „Being
Lawinky“ und Claus Peymann, der Chef des traditionsreichen
Berliner Ensembles, der sich selber gern im Heldenfach sieht, gewährt
ihm „Asyl“. Das ist dann gewissermaßen das Satyrspiel
zur FAZ-Posse, in der die Pressefreiheit bedroht ist, weil der Kritiker,
seiner Macht-Insignien beraubt, kurz nicht mitschreiben konnte.
Kinder, die katastrophenselige Kulturkritiker gern in Gefahr sehen,
wenn sie vorm Bildschirm hocken statt mit „Freunden“
zu spielen, wissen üblicherweise, dass sie nur „Helden“
eines Video-Spiels sind und nicht den „war on terrorism“
vom Kinderzimmer aus im Alleingang gewinnen. Stadelmaier dagegen,
der doch so virtuos mit Metaphern und Realitätsebenen jonglieren
kann, vergisst urplötzlich, dass er nur zwischen die Fronten
eines interaktiven Theaterspiels geraten ist und nicht wirklich
bedroht und beleidigt wurde. Der Schwan auf dem Schoß ist
aus Stoff und garantiert kein Vogelgrippevirusträger.
Und der Kritiker, der gekränkt den Saal verlässt, ist
vielleicht nicht aus Pappe, aber er spielt ein Spiel: das des gekränkten
Kritikers, der sein Gekränktsein im Bewusstsein zahlreicher
Schauspieler- und Zuschaueraugen, die ihm folgen, nur spielt. Hoffentlich!
Denn wäre der Kritiker, dem solches just passieret, wirklich
gekränkt, müsste man sich tatsächlich Sorgen um seine
Gesundheit machen.