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nmz-archiv
nmz 2006/05 | Seite 47
55. Jahrgang | Mai
Internet
Lebenswege im Exil nachgezeichnet
Lexikon exilierter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit jetzt
online
Das Musikwissenschaftliche Institut der Universität Hamburg
hat sich in den vergangenen 20 Jahren als Zentrum der Exilmusikforschung
profiliert. Treibende Kraft ist Peter Petersen, der unter anderem
durch die Schriftenreihe „Musik im ,Dritten Reich’ und
im Exil“ und mit seiner „Arbeitsgruppe Exilmusik“
Studenten wie Fachkollegen gleichermaßen von der Notwendigkeit
überzeugt, das Grauen der NS-Zeit in seinen Auswirkungen auf
das Musikleben zu erforschen. Nun gibt er gemeinsam mit Claudia
Maurer Zenck das „Lexikon exilierter Musiker und Musikerinnen
der NS-Zeit“, kurz „LexM“, heraus. Unter www.lexm.uni-hamburg.de
ist es gebührenfrei nutzbar.
Das Online-Lexikon LexM wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
finanziert und von der Universität Hamburg sowie deren Rechenzentrum
unterstützt, von dem die Programmierung und das schlichte und
funktionale Design der Seite stammen. Nach etwa 25 Jahren Exilmusikforschung
ist dies das erste Nachschlagewerk zu NS-verfolgten Musikern. Zwar
wird mit dem Orpheus Trust in Wien ein in Teilen vergleichbares
Projekt zu Musikern aus Österreich und Ländern der ehemaligen
Donaumonarchie vorangetrieben (www.orpheustrust.at).
Jedoch ist die Datenbank des Orpheus Trust nicht im Internet verfügbar,
sondern lediglich auf Anfrage zugänglich.
Das LexM will die Lebenswege exilierter Musiker vor dem Vergessen
bewahren – mitunter auch aus dem Vergessen zurückholen
– und im musikkulturellen Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit
verankern. Deshalb zählt das LexM zu seiner Zielgruppe nicht
nur Wissenschaftler und Studenten, sondern auch die interessierte
Öffentlichkeit. So steht am Anfang jedes Personeneintrags eine
gut lesbare Biographie. Die darauffolgenden stichwortartigen Listungen,
die über Registerkarten wie „Personendaten“, „Berufe/Tätigkeiten“
und „Quellen“ abgerufen werden können, sind wiederum
eher für den Forscher gewinnbringend. Über die Suchfunktionen
kann man nicht nur Personennamen eingeben. Mit der Kombination „Zauberflöte
Königin“ beispielsweise erhält man die Namen der
in der Datenbank gespeicherten Sängerinnen, die die Königin
der Nacht gesungen haben. „Streichquartett“ führt
zu allen, die Streichquartette geschrieben oder gespielt haben.
Über einen Städtenamen lassen sich aus einer Stadt stammende
oder für eine Stadt relevante Musikerpersönlichkeiten
recherchieren. Wer wiederum etwa nach Frauen sucht, die 1900 oder
früher geboren sind, gelangt über eine Eingrenzung von
Geschlecht und Geburtsjahr zu seiner Trefferliste.
Bislang sind etwa 100 Musiker im LexM verzeichnet, die Anzahl steigt
jedoch an. Im Gegensatz zu Printlexika hat das LexM nicht mit Platzbeschränkungen
zu kämpfen. Auch nicht prominente Musiker, die in Deutschland
und Österreich (nach den Grenzen vor dem Ersten Weltkrieg)
geboren wurden oder künstlerisch tätig waren, finden daher
Eingang. Und noch einen Vorteil hat das LexM gegenüber Druckwerken:
Als „work in progress“ kann es ständig ergänzt
und korrigiert werden. Anregungen von Seiten der Nutzer, wer in
das Lexikon aufgenommen werden könnte oder wo es Informationen
gibt, so zum Beispiel in privaten Nachlässen, sind ausdrücklich
erwünscht. Prof. Peter Petersen hat über die Jahre hinweg
gut 5.000 Namen gesammelt – die Herausgeber gehen davon aus,
dass bis zu 10.000 NS-verfolgte Musikerinnen und Musiker in das
Lexikon aufzunehmen wären. Der Musikerbegriff wird absichtlich
weit gefasst. „Musiker“ sind nach dem LexM all jene,
die sich professionell mit Musik beschäftigen, also über
Komponisten, Instrumentalisten und dergleichen hinaus auch Angehörige
aus Musikberufen in den Bereichen Wissenschaft, Presse und Rundfunk,
Schriftstellerei, Verlagswesen, Management und Musiktherapie. Auch
werden U- und E-Musik nicht unterschiedlich gewichtet. Ähnlich
breit wird der Begriff des „Exils“ ausgelegt. Er meint
hier nicht nur die erfolgreiche Flucht ins Ausland, sondern bezieht
sich auf all jene, die im Nationalsozialismus von irgendeiner Form
der Verfolgung betroffen waren, sei es durch antisemitische Diffamierung,
Einschränkung der Berufsausübung, Enteignung, Ausbürgerung,
Deporta-tion, Haft oder Ermordung. Als betroffen gelten dabei selbst
jene, die nur in jüngster Kindheit das NS-Regime erlebten.
Verfasst wurden die meisten Beiträge bislang von Sophie Fetthauer,
die unter anderem bereits mit ihrer Dissertation „Musikverlage
im ‚Dritten Reich’ und im Exil“ zur Exilmusikforschung
beigetragen hat und seit Anfang 2005 auf einer vollen Stelle für
die Umsetzung des Projekts zuständig ist. Die übrigen
Artikel stammen von freien Autoren, die ebenfalls bereits über
Exilmusik publiziert haben. Darüber hinaus wird in diesem Semester
die Arbeit am LexM in einer Schreibwerkstatt für Studenten
vorangetrieben, die von Sophie Fetthauer veranstaltet wird. Sie
erläutert: „Es ist Teil des Projekts, dass man junge
Leute heranzieht, die auf dem Gebiet der Exilmusik forschen.“