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nmz-archiv
nmz 2006/05 | Seite 12
55. Jahrgang | Mai
Semmelmann
Polarnacht
Während noch nicht ganz klar ist, ob Benito – äh,
sorry – Silvio Berlusconi seine mediale und somit politische
Macht nutzen kann, um die Wahl in Italien erfolgreich anzufechten
und dem politischen Gegner Wahlbetrug unterzuschieben; während
der iranische Präsident in alle Welt posaunt, dass es seinem
Land auf dem Weg zur Bombe gelungen ist, Uran anzureichern; während
sich die Amis für einen weiteren Krieg rüsten; während
das von jedem aufrechten Fußballfan erwartete „Wunder
vom Millerntor“ ausgeblieben ist, während in Indien ein
Schauspielstar stirbt und daraufhin Massenunruhen ausbrechen und
mir ein „Die spinnen, die Inder“ durchs Hirngebälk
zischt; während sich all das und noch vieles mehr auf unserem
Planeten zuträgt, sitze ich hier in meiner kleinen Butze, einen
Tag vor dem Tag, an dem vor bald 2000 Jahren eine Art Freiheitskämpfer
von seinen eigenen Landsleuten ermordet wurde, weil deren Führer
es für erstrebenswerter hielten, sich mit den Okkupanten ihres
Landes zu arrangieren, hielt das doch die politische Lage im Lande
einiger-maßen stabil und die eigenen Vorratskeller prall gefüllt
... – sitze ich also hier in meiner kleinen Butze und starre
bewegungslos zum Fenster hinaus. Die Warterei auf den Frühling
kann zermürbend sein.
Die Karwoche (so sagt man bei uns im katholischen Baden-Württemberg)
des Jahres 2006, die manchen Zeitgenossen als die Woche des Berlusconi-Abgangs
oder sonst irgendwie in Erinnerung bleiben wird, nenne ich –
vom Hass zerfressen – die Sechs-Grad-Celsius-Woche. Große
Dinge hatte ich mir vorgenommen. Sämtliche Gitarren neu besaitet.
Die Single-Coiler mit den .010ern bis .046ern, die Humbucker mit
den .010ern bis .052ern, die Akustische mit einer .012 auf der 1
bis hoch zur .053 auf der 6, Optimismus und wohlig warmen Sonnenschein
verkündende Balladen, angereichert mit meinem glockenhellen
Gesang; erdige, die blutige Revolution der Unterdrückten (auch
auf die Gefahr hin, dass die gar nicht mitmachen wollen, die Unterdrückten)
proklamierende Gitarrenwände; Soli, die sich in messerscharfen
Glissandi in atemberaubender Geschwindigkeit gen Himmel schrauben
... Ja, ich hatte mir für die arbeitsfreie Karwoche sogar vorgenommen,
das Klavierspiel zu erlernen. In einem Schnellkursus, dessen Methodik
und Didaktik ich selbst ausgearbeitet habe: „Richard Clabauterman
in 5 days“. Stattdessen sitze ich hier am Fenster und starre
in den einheitsgrauen Himmel hinauf. Der so einheitsgrau ist, dass
selbst ein „Cloudspotting“ unmöglich ist. Das Thermometer
zeigt, wie seit Tagen zu jeder Tag- und Nachtzeit, sechs Grad Celsius.
Über die blaugefrorenen Füße gestülpt, trage
ich zwei Paar dicke Baumwollsocken und trinke ständig dampfendheißes,
leckeres italienisches Nationalgetränk. Die letzte Nacht verbrachte
ich frierend unter zwei Bettdecken. Meine Finger sind völlig
steif und ich kann nicht mal mehr einen popeligen e-Moll greifen.
Wozu auch? Er würde auf dem Weg durch die Lüfte erfrieren
und auf dem Boden zerschellen. Gnadenlos.