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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 9
55. Jahrgang | Juni
www.beckmesser.de
Theorie-Scratching
Die Münchner Musiktheaterbiennale, stets auf der Suche nach
Grenzüberschreitungen, wagte in diesem Jahr eine Begegnung
mit der DJ-Kultur. Ein junges Team von Studierenden und Absolventen
der Musikhochschule und der Bayerischen Theaterakademie sorgte dafür,
dass das Experiment, das unter dem Titel „Barcode“ die
Welt des Konsums wieder einmal als buntes Gehege für hoffnungslos
manipulierte Verbraucher darstellte, mit Schwung über die Bühne
ging (siehe Bericht auf S. 37/38).
Biennale-Chef Peter Ruzicka und Musikhochschuldirektor Siegfried
Mauser als musikalische Berater hatten die Musikstücke von
Steve Reich bis Orff (und Ruzicka) ausgewählt, aus denen die
DJ-Musikerin Alexandra Holtsch dann ihren Sound herstellte. Die
Samples waren meist sehr kurz, die Verarbeitung eingreifend, so
dass von den Originalen kaum noch etwas erkennbar war. E meets U:
ein kniffliger Fall sowohl für Strukturanalytiker als auch
für die GEMA – was hängt womit zusammen, wer ist
hier der Autor?
Eine Knacknuss auch für die Theoretiker. Die Vertreter der
oberen Kultursphäre fühlten sich vermutlich doch nicht
so ganz wohl bei diesem Abstecher in die Gefilde der Clubkultur,
sonst hätte wohl Siegfried Mauser beim Podiumsgespräch
vor der Uraufführung nicht den Versuch unternommen, den munteren
Mix aus Scratch, Krach und Elektropop, den die beiden DJs an ihren
Turntables produzierten, theoretisch zu adeln. Nein, der nahe liegende
Vorwurf der Postmoderne treffe auf diese Musik gewiss nicht zu,
dazu sei sie zu widerständig und zu brüchig. Vielmehr
handle es sich dabei um einen klaren Fall von Zweiter Moderne. Hier
blickte Ruzicka zufrieden in die Runde.
Dem Zuhörer wurde bei diesen eleganten dialektischen Pirouetten
ganz schwindlig, und im Kopf begann es zu surren: Widersprüche
im Material aufzeigen, Erkenntnischarakter der Musik, kritisches
Hören... Man war ganz verblüfft, wie argumentationssicher
hier der Aktionismus der Turntable-Jongleure an die Leine der Theorie
genommen wurde.
Beinahe sah es so aus, als ob der heimatlos gewordenen Kritischen
Theorie unverhofft der ersehnte Anschluss an die avanciertesten
Kunstpraktiken gelungen wäre. Wenn sich trotzdem kein Hochgefühl
einstellen wollte, so wohl auch deshalb, weil diese Praktiken vielleicht
doch nicht so avantgardistisch sind, wie sie wohlmeinenden liberalen
E-Musikhörern erscheinen mochten. Vor allem aber war es die
DJ Alexandra Holtsch selbst, die allen theoretischen Träumereien
eine herbe Ab- fuhr bereitete. Sie erweise den Komponisten, deren
Stücke sie hier verhackstücke, einen großen Gefallen,
meinte sie in einer prophylaktischen Replik auf Einwände, die
gar niemand erhob. Sie müssten doch froh sein, dass ihre Werke
hier endlich einmal aufgeführt würden und ein Publikum
fänden. In ihren Stücken stecke eine unheimlich starke
Energie, die dann in ihre Performance einfließe, und das sei
doch einfach super.
Eigentlich hat sie ja Recht. Mit ihrem pragmatischen Musikverständnis
– man könnte es mit Adorno auch Musikantenbewusstsein
nennen – bringt sie den Saal ganz schön zum Dröhnen
und Grooven. Das einzige Problem ist nur, dass von den Stücken,
deren unheimlich starke Energien sie nutzt, nichts mehr erkennbar
bleibt. Sie werden partikelweise mit Haut und Haar aufgefressen,
verdaut und als elektronisch transformierte Stoffwechselprodukte
wieder ausgeschieden. Dem Hörer dürfte es egal sein, ob
hinter den Geräuschen, die aus den Lautsprechern quellen, jetzt
ein Orff oder ein Lachenmann steckt.
Und wieder einmal hat die Theorie den Zug verpasst, besser gesagt,
sie ist auf den falschen aufgesprungen: auf den der Popmusik. Er
fährt mit Volldampf in eine ganz andere Richtung, und alle
Bemühungen sind umsonst, ihn auf die alten Begriffsgeleise
umzuleiten. Diese Musik will nicht falsches Bewusstsein entlarven
oder über irgendetwas aufklären. Sie ist pure Manifestation
ihrer selbst und dient zur Möblierung bereits vorhandener Stimmungslagen
und Bewusstseinsräume. Sie demonstriert die Macht des Faktischen.
Was ja nicht per se schlecht zu sein braucht.
Dagegen kommt keine Theorie an, die bei allen dialektischen Klimmzügen
noch immer klammheimlich an der Idee des autonomen Kunstwerks festhält,
auch wenn sie ihre Adornismen mit Vokabeln wie Widerstand und Subversion
zeitgemäß zurechtfrisiert. Sinnvoller als solche Versuche,
die neue Wirklichkeit der alten Theorie anzupassen, wäre es,
die akustischen Phänomene als das zu beschreiben, was sie sind
– Ausdruck einer strikt empirischen Musizierhaltung, die sich
durch ihren sozialen und technologischen Kontext definiert. Die
Idee großer Kunst wäre jenseits solcher soziologischer
Kriterien zu finden.