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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 37-38
55. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Die Feigheit vor dem Freund und das Andere
Zur zehnten Münchener Biennale, Festival für neues
Musiktheater · Von Reinhard Schulz
Die Musiktheaterbiennale in München bietet Platz für
den experimentellen Ansatz, für Formen, wie Oper jenseits von
hergebrachten Mustern zu denken ist. So war sie 1988 angetreten.
Man wollte jungen Talenten die Chance geben, neue Modelle zu probieren
und die eigenen Kräfte zu messen. Und wirklich erwies es sich,
so kann man im Rückblick auf nunmehr zehn Biennalen sagen,
dass in der Regel die dramatischen Vorschläge am triftigsten
wirkten, die sich am radikalsten dem Apparat der Oper entgegenstemmten.
Der Begriff Apparat freilich wäre hier weit zu fassen, er betrifft
nicht nur die materiellen Bedingungen zur Realisation einer Oper,
er betrifft auch die ideellen Momente, also das, wie eine Oper als
stimmiges Gebilde beschaffen sein müsste.
„Barcode“
von Cornel Franz mit dem Musiksampling von Alexandra Holtsch.
Foto: Regine Körner
Hier hatte der Biennale-Gründer Hans Werner Henze vielleicht
schon die Weichen etwas unglücklich gestellt, indem er den
Dreierschritt Libretto-Musik-Regie zu unbedingt setzte und vor allem
das Libretto, also die dramatisch strukturierte Story, als unabdingbar
voraussetzte. Sprich: Der spannende, mög-lichst heutige Probleme
aufwerfende Handlungszusammenhang setzt die Phantasie des Komponisten
und letzt-lich auch des Regisseurs in Gang. Mehr und mehr erweist
sich heute, dass diese die Oper im 18. und 19. Jahrhundert (und
auch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts) bestimmende Abfolge
mehr und mehr brüchig geworden ist. Das Nacherzählen von
Handlung ist mit den musiksprachlichen Mitteln der Gegenwart kaum
mehr vereinbar, was vor allem mit Zeitgesetzen der gegenwärtigen
Musik zusammenhängt. Aber dies ist ja kei-neswegs die einzige
Möglichkeit, auf der Text, Bild, Aktion und Musik zusammenkommen
können. Und so nimmt es nicht Wunder, dass ein Gutteil der
spannenden und innovativen Musiktheaterprojekte der letzten 30 Jahre
auf das tradierte Opernkorsett verzichteten und statt dessen neue
Begegnungen, neue Sinnzusammenhänge schufen. Erinnert sei nur
an Kagel, Nono, Cage, Lachenmann, Feldman, Zender, Hölszky,
Hespos, Reich, Rolf Riehm, oder an spätere Entwürfe Wolfgang
Rihms und an viele andere, oder mit Blick auf die letzte Biennale
2004 auf André, Ferneyhough oder auch Baltakas. Die Frische
solch neuer dramatischer Herausforderungen, die meist nicht logischen
Erzählstrukturen gehorchen, hält das Musiktheater am Leben,
dem man im Hinblick auf die tradierten Bezugssysteme (und hiermit
wohl zu Recht) längst das Ende prophezeite. Gleichwohl scheint
es so, als würden sich manch vor allem jüngere Komponisten
immer noch an den tradierten Opernbetrieb anzupassen versuchen:
Musiktheater als Anpassung an Erwartungshaltungen, die Feigheit
vor dem Freund. Allzu häufig muss man hier Scheitern konstatieren.
Diese Zeichen setzte bei der diesjährigen Biennale mit dem
etwas kursorischen Titel „Labyrinth/Widerstand/Wir“
schon recht drastisch die Eröffnungsoper „WIR“
von Christoph Staude nach Jewgenij Samjatin. Man hatte hier den
Eindruck, als würde Oper nach Rezeptur verfertigt. Und es funktionierte
über-haupt nicht. Staude ist in seinen letzten Arbeiten immer
wieder als genau in bizarre Landschaften horchender Musiker aufgefallen,
so zum Beispiel mit seinem Klavierkonzert „Areal“ im
Begleitprogramm der Biennale 2002. Hier ließ er eine genuin
eigene, unverwechselbare und sinnlich aufregende Klanglichkeit vernehmen.
Jetzt aber ließ er, vielleicht eingeschüchtert von musikdramatischen
Anforderungen, die ihn zudem immer mehr unter Zeitdruck setzten,
eine Zurücknahme seiner musiksprachlichen Mittel durch Abrufen
von Espressivogesten vernehmen. Der Kardinalfehler, dem auch der
Librettist Hans-Georg Wegner verfiel, war das Nichtbegreifen der
unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten eines Romans und
eines musikdramatischen Ansatzes. Dass sich dem dann auch die biedere,
mit Klischees nicht sparende Regie Helen Malkowskys nahtlos anschloss,
indem sie Standards psychologisierender Personenführung abrief,
verwunderte kaum. Der die geistige Massenuniformierung des Menschen
utopisch vorwegnehmende Text von Samjatin aus dem Jahr 1920 hätte
durchaus Sprengkraft geboten: aber nicht, wenn er auf eine stupide
Liebesgeschichte in traditionell anmutender Theatralisierung zurückgefahren
wird. Das aber geschah und jegliche potentielle Energie des Stoffes
verpuffte. Die Oper blieb gnadenlos und mit peinlich rührseligen
Momenten hinter der möglichen Brisanz zurück. Leeres Pathos,
bemühte Bühnenwirksamkeiten, die in ihrer Kenntlichkeit
kollabierten, beließen das Publikum in letztlich anteilnahmsloser
Agonie. Musiktheater kann nicht als klanglich-visuelle Bebilderung
eines auch noch so interessanten gedanklichen Vorwurfs gedeihen.
Auch die zweite Biennale-Oper, Cattaneos Minotaurus-Adaption „La
philosophie dans le labyrinthe“ nach Texten von Edoardo Sanguinetti
hatte davon. Aber hier stimmten zumindest die Zutaten. Cattaneo
hatte den grossen, zwei Generationen älteren italienischen
Lyriker und Erzähler Edoardo Sanguinetti im Jahr 2000 bei einer
Dichterlesung in Madrid kennen gelernt. Die Musik des damals 26-Jährigen
sprach den Dichter unmittelbar an, man entdeckte labyrinthische
beziehungsweise minotaurische Berührungspunkte. Der Plan zu
einer Oper entstand und diese Chance konnte sich der junge Komponist
nicht entgehen lassen. Zunächst entstand 2002, gleichsam als
Probeballon, eine Gesangsszene mit dem Titel „Minotaurus,
dreaming“, daraufhin wurde die Oper konzipiert. Es wurde eine,
die die Handlung hintan stellt und statt dessen eine Folge von assoziativen,
stets auch philosophisch grundierten szenischen Bildern entwirft.
Musiktheater wirkte hier als Komplex unabhängig wirkender Kräfte,
die alle für sich probate Mittel einsetzten. Die Kälte
des Polierten stellte sich ein, wurde aber aufgefangen durch plastische
Bilder, durch tiefsinnige Texte und durch eine Musik, die eine fein
gehörte Folie für den Gang der Ereignisse oder besser
der Bilder abgaben: die Oper als Folge assoziativer Bilder, schön
und mit reichen Brückenschlägen, gefunden vom Regisseur
Michael Scheidl. Für die musikalische Gestaltung war insbesondere
die Doppelnatur des Minotaurus interessant. Cattaneo konzipierte
zwei Ensembles, ein gewissermaßen normales und ein dazu von
gesellschaftlichen Zugriffen verbogenes aus Akkordeon, Barockflöte
oder Salonpiano. Dessen Klänge sind fremd in ihrem Timbre,
sie spiegeln die „reine“ Musik und werfen eine Art Zerrbild
aus. Von dieser Basisidee ausgehend ließ sich profund komponieren
und immer wieder spielte Cattaneo mit der Flüchtigkeit der
klanglichen Erscheinungen, mit ihren Querverweisen auf Spiegelnaturen.
Hier ist sein kompositorisches Terrain, hier kann er die Fähigkeiten
zu plastischer Klanggestaltung ausspielen. So entstand eine subtile,
luftig durchhörbare, immer wie-der auf geschmeidig geführte
Linien fokussierte Musik von subtilem Glanz (das Klangforum Wien
unter Emilio Pomárico demonstrierte auf höchstem Niveau,
wie genau es mit Feinheiten dieser Art umzugehen weiß). Die
Singstimmen verleugneten in Arien nicht, dass die Idee des Belcanto
immer noch lebendig ist, sie loteten extreme Lagen aus, hin zur
gutturalen Tiefe eines tibetanischen Mönchsgesangs (besonders
herausragend die Farbintensivität der sonoren Stimme von Michael
Leibundgut als Minotaurus) und zur schrillen Höhe, nie aber
wurde das ästhetische Gerüst von klangsensibler Durchgestaltung
verlassen. Dennoch blieb der Eindruck eines unverbindlichen Miteinanders
der Schichten Musik, Text und Bild. Ein in sich stimmiger, musikdramatischer
Entwurf verlangt eine stärkere Verzahnung oder eine plastischere
Konfrontation.
Dann „Gramma“ von José M. Sanchez-Verdú:
Hier fand sich nun endlich das wohltuend Andere im Hinblick auf
theatrale Konzeption. Musiktheater, das ist der bewusst abgelegene
Ort, wo alle Sinne geschärft sind. Sanchez-Verdú ging
es um das Geheimnis der Schrift, um die Änderung des Bewusstseins
durch das Mittel der Aufzeichnung, um Verschiebeprozesse des Erinnerns
und Vergessens. Dazu hatte er eine Folge von sechs philosophisch
grundierten Szenen kompiliert (Ulysses, Augustinus, Venus und Adonis
et cetera), die jeweils eine Form des erinnerten Vergessens thematisieren.
Es ging ihm freilich nicht um die diskursive Debatte, sondern –
und dafür steht Theater – um das sinnliche Wahrnehmen
dieser Prozesse. Dafür erfand er eine konturenreiche, immer
wieder in Grenzbereiche gehende Musiksprache von tiefer Eindringlichkeit.
Klang lebt immer in der Spanne zwischen Fortdauern und Verschwinden,
somit ist er unmittelbarer Genosse der leitenden Idee. Das Bewahren
des Verschwindenden im Buche schlug denn auch die Brücke zur
Inszenierung (Sabrina Hölzer). Denn sie wurde als Buch verwirklicht,
das dann auch jeder Besucher mit nach Hause nehmen konnte. Das Publikum
wurde umfunktioniert zur Versammlungsgesellschaft in einem Skriptorium,
das theatrale Gegenüber von Klang und Bild verwandelte sich
in eines von Klang und Buch, in dem jeder blätterte. Die hier
versammelten Zeichnungen von Mirella Weingarten hatten dabei ein
wenig den Chic des Kunstgewerblichen, das Buch war aber auch bestückt
mit Partiturausschnitten (Skizzen) oder mit Sätzen über
das Wesen von Schrift oder über das Vergessen. Und plötzlich
entstanden, animiert von den suggestiven, oft in Andeutungen und
Schattenwirkungen verharrenden Klängen von Sanchez-Verdú,
Weite und tiefes Eindringen in unsere Prozesse geistigen Bewahrens.
Das Theater war aufgebrochen, nicht eine Bühne lenkte den Blick,
sondern das vor einem liegende Buch. Es war ein Fokus, der bewies,
in welchen Dimensionen Bild, Aktion und Musik zu denken sind. Solche
Wege zu erspüren aber ist die wohl interessanteste, in die
Zukunft weisende Aufgabe der Biennale.
Ein netter, freilich auch etwas harmloser Side-Step gelang der
Biennale in der Scratch-Oper „Barcode“. Die Idee des
mit Strichcode und Chip gleichgeschalteten Menschen stand dahinter
und wurde durch musikalische Aktionen auf Turntables (erstaunlich
souverän die für den musikalischen Verlauf verantwortliche
Alexandra Holtsch und ihr Partner DJ Illvibe). Hier stimmte vor
allem eines: das Timing. Und das ist eine Grundvoraussetzung für
in sich rundes Theater. Die szenischen Ideen (Nilufar K. Münzing)
waren in Tanz, Schauspiel und Gesang ein wenig schulaufführungsartig
von der lockeren Folge des Musicals inspiriert, Loop-Strukturen
mit Zitaten repetitiver Musik korrespondierten mit den Räderwerkhandlungen
der Gleichgeschalteten, aus denen nur die „Person B“,
dem der Identitätschip abhanden gekommen war, und dessen „Betreuerin
R“ (Thomas E. Bauer und Salome Kammer) ausbrachen. Es mag
dahin gestellt sein, ob das mit Strichcodes gescannte Individuum
durch Verfahren ästhetisch zu spiegeln ist, die mit ähnlichen
Mitteln arbeiten. Es hat etwas von Teufel und Beelzebub. Und leider
ließ es sich der Autor und Mentor Cornel Franz nicht nehmen,
am Schluss des Stückes ins Erklärende und Belehrende abzugleiten,
wozu die Protagonisten Brotzeit machten. Das gab dem Stück
trotz Sahnegebäck eine falsche, dem Theater nicht gemäße
Schwere bis hin zur Ermahnung, sich der Erfassung zu entziehen,
also „unlesbar“ zu werden. Ein einstündiges Hörbild
steuerte mit „City Scan: München“ der Münchner
Komponist Klaus Schedl bei. Dabei traf sein Ergebnis wohl so gar
nicht die vorab aufgestellten Erwartungen. Sound-Scapes, also Hörcollagen
von Orten gibt es mittlerweile seit gut 30 Jahren. Schedl aber dachte
die Prinzipien weiter. Die in München aufgenommenen Klänge
(plus O-Töne vom BR) wurden durch elektronische Maßnahmen
weitgehend unkenntlich gemacht, Orts- oder Klangangaben kamen auf
Video und beim Wort Blasmusik etwa war allein das Geräusch
von Anblasvorgängen übrig geblieben. Livemusik reagierte
auf diese, München als Weltstadt mit Herz konterkarierenden
Soundgebilde und trieben bis zum grellen Schrei. Es entstand ein
dunkel untergründiges Klangbild, das, hatte man sich auf die
Prinzipien eingelassen, durchaus starke Sogwirkung entwickelte.
Kein Klangbilderbogen entstand, vielmehr ein den Strukturen abgelauschtes
emotionales Reaktionsfeld.
Hierzu korrespondierte ein weiterer Versuch im Beiprogramm mit
dem Titel „Der Blick des Komponisten“. Die vietnamesische,
in Hanoi geborene Komponistin Tran Thi Kim Ngoc war (vom Siemens
Arts Programm) beauftragt worden, die Münchner Glyptothek mit
ihren meist griechischen und römischen Standbildern klanglich
zu gestalten. Entworfen wurden Perspektiven der Abwesenheit, die
(letztlich vergebliche) Bewahrung erschien auf der Folie des Vergänglichen,
der Flüchtigkeit des Lebens. Meditativer Gesang, Schlagzeug,
Tanz oder rituelle Aktion schillerten hinüber zu den steinernen
Zeugen abendländischer Geschichte und schlossen Koalitionen
nachdenklicher Betrachtung.
Und hier war man schon wieder ganz nah bei Sanchez-Verdú
und seinem Widerspruch zwischen Bewahren und Vergessen in der Schrift.
Kleine Kreise schlossen sich, wohl aber sind sie es, die von der
diesjährigen Biennale in die Zukunft mitgenommen werden.