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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 41
55. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Ahoi Darmstadt – Leuchtfeuer auf pluralistischen Wegen
Brückenschlag zwischen Avantgarde-Profis und interessierten
Laien: Frühjahrstagung für Neue Musik in Darmstadt
Gegenwart ist immer Plural und Monokausalitäten gibt es nicht.
Jeden Tag auf’s Neue aufzustehen und sich zu sagen: Ja, ich
decke den Widerspruch auf, ja, ich stelle mich der Vielfalt der
Eindrücke und Interpretationsmöglichkeiten, stelle auch
die Bedingungen meines Erkenntnisinteresses in Frage, fange wieder
bei Null an, nämlich möglichst vorurteilsfrei und blicke
am Abend auf mein Häuflein Ungewissheit, ist, allzu menschlich
betrachtet, ein hartes Brot, weit weg von jeder Wards-Zufrieden-Gemütlichkeit.
Genau zu jenem aber, zu diesem harten Brot, muss zeitgenössische
Kunst gehen, will sie nicht als belanglos summende Eintagsfliege
von einem auch nicht belangt werden wollenden Publikum die Klatsche
bekommen. Beifall von der falschen Seite hieß das einmal zu
Adorno-Seligs Zeiten.
Geklatscht wurde indes viel und heftig bei der numehr 60. Jahrestagung
des Darmstädter Instituts für Neue Musik und Musikerziehung
am verlängerten Wochenende nach Ostern. „Orientierungen“
im „Pluralismus der Gegenwartsmusik“, so das Tagungsthema,
anzubieten, tut tatsächlich Not.
Die zahlreichen anwesenden Künstler und Komponisten selbst
braucht das eigentlich weniger zu interessieren. Was aber tiefschürfende
reflektierende Komponisten wie Hans Zender, Klaus Stephen Mahnkopf
oder auch Markus Hechtle aus ihrer Perspektive des Schaffenden an
den knapp vier Tagen anboten, waren auch den anwesenden Tagungsteilnehmern
– „Tendenz steigend“ – zumindest Anhaltspunkte
im Wortsinn.
Nämlich aus dem pädagogischen Tagesgeschäft kurzzeitig
auszusteigen und die hochkarätigen Anregungen aus berufenen
Mündern konstruktiv auf sich wirken zu lassen: ganz gemäß
Satzung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung. Der
Vorstand des Instituts um Helmut Bieler-Wendt und Jörn-Peter
Hiekel leistet eine hochseriöse und inhaltlich wirklich auf
der Höhe der Zeit angesiedelte Arbeit – sehr guter Eindruck.
Aufgegangen ist vor allem das Konzept einerseits eines Brückenschlags
zwischen Avantgardeprofis und interessierten Laien und Kindern,
andererseits der wechselseitige Blick aus der improvisierten auf
die komponierte zeigenössische Musik, von der abendländischen
auf die morgenländische und umgekehrt und vor allem das straffe
Verzurren des Tagungsprogramms zu einem inhaltlich eben nicht beliebigen,
mitunter auch verlegenen Reigen fröhlich unvorbereiteter Referenten
und Komponisten. Gerade hier, in den ästhetischen Diskussionen
und im Auffächern des Tagungsthemas in seine unterschiedlichen
pädagogischen Segmente zwi- schen Laienmusik und kompositionsgeschichtlich
relevanter zeitgenössischer Musik hatte die Tagung eine ihrer
Stärken.
Eruptiv, vollgriffig
Die Konzerte etwa für chinesische und westliche Instrumente,
für mikrointervallisch agierendes Streichquartett oder für
– natürlich auch – zwei Klaviere brachte gewissermaßen
die Thor-Heyerdahl’sche-Beweisführung auf den Plan, dass
einer These auch Taten folgen sollten.
So waren gerade die zwei neben-, nicht gegenüber gestellten
Klaviere (Oliver Kern, Daniel Seel) jenes papierne Schiffchen, mit
dem sich abenteuerlich und dennoch sicher, über das Meer der
Gegenwartsmusik navigieren ließ. Markus Hechtles zuerst vollgriffig
eruptive „Musik für zwei Klaviere“ erinnerte im
weiteren Verlauf tatsächlich an Debussys „La mer“
– aus Abneigung gegen die Besetzung entstanden, wie es der
Komponist erläutert. In Neuer Musik ist diese Haltung fast
schon die halbe Miete, bekanntlich wollte Morton Feldman nie eine
Oper komponieren und Beckett mochte die Gattung ebenfalls nicht.
Ja, ja: Der gute alte Anti-Reflex brachte jetzt auch bei Hechtle
eine formal zwingende und klanglich sehr fesselnde, dabei klangtechnisch
sehr austarierte und durchgehörte Musik in Umlauf, deren warme
Strömung unser kleines Boot Orientierung zu neuen Ufern führte,
wo vielleicht noch matriarchalisch organisierte Stämme die
Felder bestellen und jeder genug zu essen hat. Das ist viel. Hechtle
komponiert gerade für das „Ensemble Modern“.
Schimmernde Leuchtfeuer
Auch der Dozentenkomponist Georg Friedrich Haas, zur Zeit aufgrund
seiner mikrotonal-virtuosen Grenzgänge in fast jeder Gattung
ganz zu Recht sehr hoch im Kurs und gefeiert, bot mit seinem fragilen
zweiten Streichquartett wahrlich ein prismatisch schimmerndes Leuchtfeuer
auf dem Weg zum Kap der Guten Hoffnung Gegenwartsmusik – mit
ernorm weiten, leisen, leicht rotierenden, von unmerklichen Übergängen
bestimmten Spannungsbögen bravourös vom Helios SreichQuartett
(sic!) anmutig und grazil dargeboten. Auch in der Programmdramaturgie
von Volker Staub, der sehr erfolgreich die Kinderuni während
der Tagung leitete, gebührt dem Darmstädter Lob. Das größte
Lob gebührte indes dem Komponisten Johannes Fritsch, über
sehr lange Jahre der Kopf der Tagung, anlässlich seines 65.
Geburtstages. Sein uraufgeführtes Streichtrio bestach durch
klangliche Klarheit und mobileartige Bewegungsmuster. Seine zarte
Musik war der Wind, mit dem wir das Land der Väter nach erfolgreicher
Expedition wieder sicher erreichten und unsere Frauen und Kinder
in die Arme schlossen. Uns war der Zwieback nicht ausgegangen. Das
ist heute auch Neue Musik.