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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 10
55. Jahrgang | Juni
Cluster
Euro-Illusion
Wir sind alle ein wenig traurig, dass es der letzte Euro Vision
Song Contest war. Alles fing doch so schön an. Die Eröffnungsshow.
Fliegende Weltkugeln bestückt mit beflügelten Griechen
über und über voll von Patros. Verzeihung, Pathos. Die
Mundwinkel hinter den Ohren eingehakt wurde auch dieses Jahr erfrischend
affirmativ jedes Land in Grund und Boden moderiert.
Spätestens bei der stimmgewaltigen Einlage von Las Ketchup
aus Spanien bebte die Halle. Gemäß der Pop-Produzenten-Weisheit
aus den 90er-Jahren – egal ob Klassik oder Schlümpfe,
unter alles passt ein Techno-Bass – präsentierte sich
auch das zeitgemäß innovative Gesicht dieses europäischen
Megaevents. Dank des neuen Punktevergabesystems ging dieser Abschnitt
des Abends um fünf Minuten schneller vorbei als bisher. Der
Sieger stand dennoch wie so oft nach ungefähr der Hälfte
der Auszählungen fest: Lordi, eine Metalband aus Finnland mit
fröhlichen traditionellen Masken und Schuhen – da werden
Erinnerungen an die Mumins wach. Moment, hier flattert gerade eine
Meldung in die Redaktion. Der Grand Prix findet nächstes Jahr
doch statt. Ach so! Wir befinden uns im Fernsehland, wo eine Sendung
selbst dann, wenn sie ihr Konzept zersprengt und zu einer Farce
mutiert, nicht abgesetzt wird. Wo ein pseudo-europäisches Format,
das längst in eine madig durchglobalisierte Schublade gepresst
wurde, jede Selbstachtung verliert, in dem eine Gruppe bizarr geschminkter
Alt-Metaller ihm einen Spiegel vorhält und trotzdem seine Sendeautorität
als gesichert sieht. Bei allem Sarkasmus, man kann dem Spektakel
auch Positives abgewinnen: Es scheint doch Ansätz eines europäischen
Humors zu geben und was noch viel wichtiger ist, liebe Kulturkritiker:
Die Identitätskrise der Deutschen relativiert sich jedes Jahr
aufs neue. In Puncto schlechter Schlager- und Popmusik sind wir
Europäer uns schon lange einig.