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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 30
55. Jahrgang | Juni
DTKV Bayern
Musik, die in die Zukunft weist
Komponistin Ruth Zechlin zum 80. Geburtstag
„Das ist Musik, die in die Zukunft weist.“ Kein geringerer
als Hellmut Matiasek, der opernerfahrene Regisseur und langjährige
Intendant des Münchner Gärtnerplatztheaters, charakterisierte
begeistert die Musik von Ruth Zechlins „Elissa“. Die
Oper wurde 2005 am Südostbayerischen Städtetheater in
Passau uraufgeführt: Mattiasek hatte das Libretto dazu geschrieben.
Und der große Rhetoriker und Literaturwissenschaftler Walter
Jens schwärmte: „Belehrt durch Ruth Zechlins Musik und
die Interpretamente ihrer Graphiken, hört ich die ‚Sieben
Worte‘ plötzlich so intensiv wie nie zuvor, stellte Fragen,
fühlte mich bestätigt.“ Er sprach über die
Uraufführung der „Sieben Worte Jesu am Kreuz“ 1997
in der Berliner Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Kirche.
Foto:
privat
Zwei Aussagen, die den breiten musikalischen Kosmos – von
weltlich-dramatischer bis zur sakral-spirituellen Musik –
der großen zeitgenössischen Komponistin aufzeigen, die
am 22. Juni ihren 80. Geburtstag feiert.
Ruth Zechlin, geboren in Großhartmannsdorf bei Freiberg
in Sachsen, erhielt ab ihrem fünften Lebensjahr Klavierunterricht
und legte bereits mit sieben Jahren eine erste Komposition vor.
Von 1943-45 und 1946-49 studierte sie an der Hochschule für
Musik in Leipzig unter anderem Komposition und Tonsatz bei Johann
Nepomuk David und Wilhelm Weismann, Klavier bei Anton Rohden und
Rudolf Fischer, Orgel bei Karl Straube und Günter Ramin. Nach
ihrem Staats-examen (1949) war sie zunächst dort als Dozentin
an der Hochschule für Musik Leipzig tätig und wirkte gleichzeitig
als stellvertretende Organistin an der Nikolaikirche zu Leipzig.
Ab 1950 wurde sie an die Berliner Hochschule für Musik „Hanns
Eisler“ berufen, lehrte dort Harmonielehre, Kontrapunkt, Formenlehre,
Instrumentation und Komposition sowie Cembalo und erhielt dort 1969
eine Professur für Komposition. 1970 wurde sie in die Akademie
der Künste der ehemaligen DDR gewählt. Seit ihrer Emeritierung
(1986) übernahm sie diverse Gastprofessuren, war von 1990-93
Vizepräsidentin der Akademie der Künste von Berlin, ist
seit 1997 Mitglied der Freien Akademie der Künste von Mannheim
und seit 1998 Ehrenmitglied des Deutschen Musikrates und seit sie
ihren Lebensmittelpunkt in Bayern hat auch Mitglied des Bayerischen
Tonkünstlerverbandes. Neben diesen Verpflichtungen setzte sie
ihre Konzerttätigkeit als Cembalistin und Organistin fort und
erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise, darunter das Verdienstkreuz
erster Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland
(1997) und den Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft
und Kunst (2001). Nach der Wiedervereinigung zog Ruth Zechlin zusammen
mit ihrer Familie zunächst nach Ostbayern, dann nach Oberbayern,
schließlich wieder nach Ostbayern und in diesem Frühjahr
nach München.
Ruth Zechlin ist eine unermüdlich schaffende Komponistin,
schrieb im-mer auch während ihrer Lehrtätigkeit. 333 Kompositionen
umfasst ihr großes Oueuvre: Werke für Bühne, Orchester,
Vokalensembles, Kammermusiken sowie Solisten. In diesem Bereich
schreibt sie vor allem für Cembalo und Orgel, aber auch Violoncello,
Schlagzeug, Oboe, Flöte und Klavier. Sie selbst bezeichnet
ihr Werk als „freitonal“. Ruth Zechlins Kompositionsstil
lässt sich in mehrere Perioden einteilen: Bis 1960 schreibt
sie freitonal, noch mit den Formen der Tradition verbunden, sie
variierend. Sie lernt den polnischen Komponisten Witold Lutoslawski
kennen, der ihr neben Hans Werner Henze wichtige Impulse für
das eigene Werk gibt. Dann, nachdem sie die Zwölftontechnik
studiert hat, baut sie immer mehr atonale Möglichkeiten in
ihre eigenen Kompositionen ein. Diese Phase geht bis zirka 1970.
Dann erhält Ruth Zechlin neue Impulse von der seriellen Musik.
Ab den achtziger Jahren verwendet sie alle Kompositionstechniken,
bezieht auch Aleatorik, Klangbänder, Cluster und verschiedene
Arten von Geräuschkulissen und Instrumenten ein. Als den Befreiungsschlag
von traditionellen Kompositionstechniken sieht sie die „Canzoni
alla notte“ nach Salvatore Quasimodo für Bariton und
Orchester, ein Auftragswerk des Gewandhauses Leipzig, wo es 1976
unter dem Dirigat von Kurt Masur uraufgeführt wird. „Mit
diesem Werk befreite ich mich von allen Zwängen und schrieb
freie, persönliche Musik.“
Dass es zeitgenössische Komposition im heutigen Musikbetrieb
so schwer hat, bedauert die Komponistin: „Es gibt Berührungsängste.
Das macht mich traurig, weil die Menschheit sich mit jeder neuen
Technik sofort auseinander setzt, aber ausgerechnet neue Kunst kommt
weniger an.“ Deshalb hatte sie beispielsweise auch die Reihe
„Musica Nova Passaviensis“ in Passau gegründet,
in der sie Komponisten wie Aribert Reimann und Krzysztof Penderecki
in Gesprächskonzerten mit ihren historischen Bezügen präsentierte.
„Wir sollten nicht vergessen, wo die Wurzeln unserer zeitgenössischen
Musik liegen, wo sie beheimatet ist.“ Außerdem weiß
die Komponistin, die auch Erfahrungen als langjährige Pädagogin
an der Hochschule in Berlin hat, dass man dem Konzertpublikum Hilfestellungen
geben soll. „Für mich – und ich denke auch für
das Publikum – ist Musik interessant im Kanon der Musikgeschichte“,
sagt sie.
Für sie persönlich ist ein ganz Großer der Musikgeschichte
maßgeblich: Johann Sebastian Bach, den sie als Kind schon
unermüdlich gespielt hat und dessen polyphone Strukturen auch
ihr Werk sehr geprägt haben. „Meine Affinität zu
Linearität und Klang kommt von Bach“, sagt Ruth Zechlin.
In diesem Jahr, in dem ihr 80. Geburtstag mit dem 250. von Wolfgang
Amadeus Mozart zusammentrifft, hat sie allerdings „Dank an
Wolfgang Amadeus Mozart“ komponiert, eine Auftragsarbeit für
die Passauer Festspiele „Europäische Wochen“. Das
fünfzehnminütige Orchesterwerk besteht aus vier Teilen,
getrennt jeweils durch zwei bis vier Töne, die als Impulsgeber
genutzt werden und zu Mozarts „Jupiter-Sinfonie“ hinführen.
Und: Die 80-Jährige hat in ihrer neuen Heimat München
viel vor: Aufgaben im Tonkünstlerverband, eine Zusammenarbeit
mit der Erzdiözese zum Thema Theologie und Musik mit praktischer
Anwendung Orgel und Sakralkomposition sowie Kompositionsforen am
Mozarteum in Salzburg warten auf sie. Natürlich ist sie auch
weiterhin eine gefragte Cembalistin und Organistin.
Man kann ihr nur weiterhin so viel Schaffenskraft, musikalische
Fantasie und Lebensfreude wünschen!