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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 15
55. Jahrgang | Juni
Gegengift
Was man hört.
Und was man sieht.
Wie hoch ist die Halbwertzeit der ewigen, der unumstößlichen
Wahrheiten? Was wurde schon alles wie für immer geglaubt und
war nach wenigen Monaten vergessen? Der Verhaltensbiologe (und Nobelpreisträger)
Konrad Lorenz zum Beispiel versuchte sich in den 70er-Jahren auch
als Wahrnehmungspsychologe und Musiktheoretiker. Was er bei der
Prägung von Graugänsen herausgefunden hatte, das übertrug
er auf unser aller Hören. Er sagte – und das hatte natürlich
nichts mit einer nazinahen Vergangenheit oder sonstigen rassistischen
Prägungen zu tun –, dass ein halbwegs erwachsener Europäer
arabische oder indische Musik nicht „hören“ könne.
Es gehe gar nicht darum, dass er diese Musik nicht möge, weil
sie ihm fremd sei, er könne sie überhaupt nicht erfassen.
In erlaubter Kürze: Die Struktur immerhin erlernter und nicht
einfach angeborener europäischer Sensibilität vertrage
sich nicht mit der Struktur arabischer oder indischer Musik. Der
Europäer nehme da gar keine Musik wahr, sondern nur ein diffuses
Rauschen oder quälenden Lärm. Das leuchtete damals vielen
halbwegs ein. In den 70er-Jahren konnte der durchschnittliche Europäer
auch Negergesichter noch nicht unterscheiden, jeder Schwarze war
ein Schwarzer und sonst nichts. Die Vorstellung, Hollywood oder
das deutsche Fernsehen könne eine tragende Rolle mit einem
Schwarzen besetzen, war absurd. Nicht, weil man Schwarze partout
nicht mochte oder wollte, sondern weil sich mit Negern keine Geschichten
erzählen ließen, denen man folgen oder für die man
ein Interesse entwickeln konnte.
Kurz und gut: Was hat sich seit den 70er-Jahren verändert?
Hören und sehen wir anders, gar „besser“? Zumindest
hat kein Weltmusik-Freak mehr Schwierigkeiten, arabischer oder indischer
Musik zu folgen. Und natürlich kann der durchschnittliche Europäer,
ganz unabhängig von seiner politischen oder sonstigen Orientierung,
mittlerweile problemlos schwarze Gesichter unterscheiden und für
„schwarze“ Stories ein Interesse entwickeln als ginge
es um ureigene Angelegenheiten – und das tut es in den besseren
Fällen auch; und in den schlechteren handelt es sich einfach
um Kitsch „as usual“, also auch nicht um eine Frage
der Hautfarbe. Was ist da geschehen, seit Konrad Lorenz und Onkel
Tom? Hören wir besser, sehen wir besser? Oder wandert nur der
blinde Fleck? Vermutlich letzteres. Es war ja schon verstörend
genug, Buchhändler stolz berichten zu hören, sie hätten
alle Bücher Peter Handkes aus ihren Regalen entfernt. Peter
Handke, der „Serbenfreund“, die einzige relevante abweichende
Stimme in Sachen Balkan, war zur persona non grata geworden, zu
einem moralischen Monstrum. Und man konnte offenbar seine Geschäftschancen
verbessern, mit seinem Gewissen protzen und vielleicht sogar einen
unschätzbaren Vorteil in eroticis ergattern, wenn man Handke
in einer heroischen Aktion stumm machte. Und dieselben unendlich
integren und gefallsüchtigen Buchhändler hätten einen
vermutlich mit einem Beleidigungsprozess überzogen, wenn man
sie aufgefordert hätte, doch Handkes Bücher am besten
gleich zu verbrennen, damit jeder weiß, was Sache ist. Aber
diese für die Sache des Guten ohne Erbarmen engagierten Buchhändler
hätten vermutlich weder gehört noch gesehen noch gar verstanden,
was man ihnen sagen wollte. So wie ein durchschnittlicher junger
Mensch mit Abitur beim besten Willen nicht verstehen kann, wie man
einst Hexen verbrennen konnte, aber ganz entschieden der Meinung
ist, dass man es, wenn es um Furchtbarkeiten wie Kinderschänderei
oder Vergewaltigung geht, mit der Unschuldsvermutung nicht zu genau
nehmen sollte. Tut man den Opfern nicht unnötig weh, wenn man
partout wissen will, ob der Täter auch ein Täter ist?
Reicht da nicht der Verdacht, die Anzeige? Und wer so denkt, kann
sich gar nicht genug wundern, dass es einst Menschen gab, die Hexen
sahen und nicht im mindesten an ihrer Wahrnehmung zweifelten. Was
sieht man und was sieht man nicht? Was hört man, was versteht
man? Was ist auf jeden Fall wahr und was auf keinen Fall wirklich?
In Frankreich engagieren sich viele, viele Intellektuelle, „öffentlich“,
weil sich eben der Dreyfus-Prozess zum hundertsten Mal jährt.
Man erinnert an Zola und an Voltaire. Zugleich unterzeichnen Schriftsteller,
Künstler et cetera lange Unterschriftenlisten, die dem Chef
der „Comédie francaise“ bescheinigen, dass er
ja so recht hatte, ein Stück von Peter Handke vom Spielplan
zu nehmen, weil der auf der falschen Beerdigung war. Lauter Leute,
die absolut und immer und überall gegen Zensur sind, aber in
diesem Fall vom „Recht, nein zu sagen“ schwärmen.
Keine Zensur, nirgends. Aber Handke muss weg. Nur das Licht der
Flammen will man nicht sehen und das Knistern der Scheiterhaufen
nicht hören.