[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 1
55. Jahrgang | Juni
Leitartikel
Streiken bis das Opernhaus schließen muss
Auf in den Arbeitskampf: in Paris, Stuttgart, München und
andernorts · Von Gerhard Rohde
Die wachsenden sozialen Spannungen selbst in wohlhabenden Ländern
berühren auch die Kunst. Wenn öffentliche Bedienstete
sich mit Hilfe ihrer Gewerkschaft dagegen wehren, womöglich
ein oder zwei Stunden mehr pro Woche zu arbeiten, wenn, wie in Paris,
Studenten gegen die Reduzierung des Kündigungsschutzes revoltieren
und dabei gewerkschaftliche Unterstützung erfahren, dann wird
auch jener Bereich der Kunst davon tangiert, der ohne Personal nicht
funktionieren kann, sprich: die Theater, die Opern- und Konzerthäuser.
Streiks gehören zu einer freien Gesellschaft, zur Demokratie
also. Es gibt ein Recht auf Streik. Aber wie weit darf dieses Recht
ausgeübt werden? Die Überstrapazierung eines Rechtsanspruchs
kann genau ins Gegenteil umschlagen: in die Zerstörung, die
niemandem mehr nutzt. Der Musikbetrieb hat für diese zwiespältige
Situation in letzter Zeit signifikante Beispiele geliefert. In Paris
wird die Uraufführung von Kaija Saariahos neuer Oper „Adriana
Mater“ quasi in letzter Minute durch das technische Bühnenpersonal
verhindert. Dieses solidarisiert sich samt ihrer Gewerkschaft mit
den protestierenden Studenten. Mehr als über hundert Kritiker
aus aller Welt sind vergeblich angereist. Das Pariser Publikum trifft’s
insofern nicht so hart, weil es aus eigentlich vergangen geglaubten
Zeiten solche Situationen gewohnt ist und gleich ins Restaurant
gehen kann.
Im vordem einstmals halbwegs geordneten Deutschland häufen
sich ähnliche „französische“ Zustände.
Die wochenlangen Streiks im öffentlichen Dienst in mehreren
Bundesländern treffen besonders die Musikbühnen äußerst
schwer. Der Münchner Opernintendant Sir Peter Jonas kritisiert
am Ende seiner erfolgreichen dreizehnjährigen Amtszeit Gewerkschaften
ebenso wie die politisch Zuständigen, dass sie es nicht schaffen
oder schaffen wollen, einen Streik in angemessen kurzer Zeit mit
einem Kompromiss zu beenden. Der finanzielle Schaden für das
Opernhaus ist beträchtlich, die Situation der vielen Mitarbeiter
hinter den Kulissen verschlechtert sich mit jedem Tag mehr statt
sich zu verbessern, weil neue Einsparungen zuerst immer den Personalbestand
treffen.
Ähnliche Klagen vernimmt man aus Stuttgart. Klaus Zehelein
muss am Ende seiner fast fünfzehnjährigen Intendantenzeit
erfahren, dass selbst Erfolg und höchstes künstlerisches
Niveau ein Theater nicht davor bewahren, zum Spielball tariflicher
Kleinkriege zu werden, denn etwas anderes als ein Kleinkrieg ist
der unsägliche Streit um die Wochenarbeitszeit im öffentlichen
Dienst nicht. Das Hauptopfer wurde dabei der französische Komponist
Gérard Pesson. Die Uraufführung seiner Oper „Pastorale“
konnte nur konzertant erfolgen. Eine mehrjährige anstrengende
Vorbereitung endete in einem Behelf, der allerdings dank des couragierten
Einsatzes aller Künstler und Musiker zu einem spannenden Erlebnis
wurde.
Die Situation ist komplex und kompliziert, mit aufgeregten Kommentaren
wenig zu ändern. Aber einiges sollte bei allem doch bedacht
werden. Solange unsere Bühnen noch partiell zum öffentlichen
Dienst gehören, besteht auch ein Recht auf Streik. Aber dieses
Recht bedarf der richtigen Anwendung, mit Augenmaß auf die
besondere Struktur der Theaterarbeit, aber auch auf das, nennen
wir es einmal geistiges Produkt, das ein Theater herstellt. Wenn
ein Streik der Bühnentechnik eine ausverkaufte Repertoirevorstellung
von „La Bohème“ trifft, kann man dies im Rahmen
einer speziellen Verhältnismäßigkeit der Mittel
noch akzeptieren. Wenn vier Wochen Vorstellungen ausfallen, droht
ein Schaden, der nur bedingt noch durch das Streikrecht gedeckt
erscheint. Fatal wird es jedoch, wenn, wie in den genannten Fällen,
das Erscheinen eines neuen Werkes verhindert wird oder nur in reduzierter
Form erfolgen kann. Das trifft nicht nur die „Arbeitgeberseite“,
sondern am meisten den schöpferischen Künstler selbst.
Man möchte nicht einmal so genau wissen, was im Inneren von
Kaija Saariaho oder Gérard Pesson vorgegangen ist, wenn die
äußerste seelische Anspannung vor der „Geburt“
ihres neuen Werkes plötzlich gleichsam in sich selbst zusammenfällt.
Es ist die Missachtung der geistigen Leistung, die einen bei solchen
Vorgängen empört und zugleich tief deprimiert.
Und wenn zuständige Gewerkschaften und auch die öffentliche
Arbeitgeberseite die akuten Vorfälle zum Anlass nähmen,
über das Problemfeld Arbeitskampf, Theaterbesonderheit und
Schutz geistiger Leistungen einmal gründlicher nachzudenken
und zu diskutieren und die Ergebnisse des Nachdenkens und Diskutierens
in sinnvolle Regeln zu fassen, dann wäre das entstandene Desaster
wenigstens in einer Hinsicht noch in einen Vorteil gewendet.