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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 4-5
55. Jahrgang | Juni
Magazin
Gelehrte Frauen, klingende Landschaften und eine Tuba
Die Wittener Tage für neue Kammermusik präsentieren
„Les femmes savantes“ und zwanzig Uraufführungen
Das Zitat aus Molières „Gelehrte Frauen“ von
1762 liest sich amüsant, sogar ein wenig aktuell: „Beweisen
wollen wir gewissen Mannspersonen,/ Die uns verachten und auf ihrem
Lehrstuhl thronen,/ Daß Wissenschaft den Frauen gleichfalls
offensteht,/ Daß man genau wie sie zu Forschungszirkeln geht,/
Die übrigens sogar weit besser funktionieren,/ Da sie, was
man gewöhnlich trennt, zusammenführen,/Nämlich den
schönen Stil und hohe Wissenschaft.“
Der
Gong als Stimmverstärker: das Klangobjekt „fausse
voix“ von Ute Wassermann. Alle Fotos: Charlotte Oswald
Die argentinische Komponistin Ana Maria Rodriguez hat die sen Text
für sich entdeckt, der umgehend zum Namen des Berliner Künstlerinnen-Kollektivs
„Les femmes savantes“ avancierte. Sie wurden heuer zu
den Wittener Tagen für neue Kammermusik eingeladen, und der
große Konzertsaal im Haus Witten, in dem hinter Glaswänden
die alten Steinmauern der einstigen Burg sichtbar sind, war ausschließlich
vier Programmen dieses Künstlerinnen-Kollektivs vorbehalten.
Was Sabine Ercklentz (Trompete), Andrea Neumann (Innenklavier
und Mischpult), Ana Maria Rodriguez, Hanna Hartman (Klangkunst)
und Ute Wassermann (Performance, Stimme) in wechselnden Formationen
präsentierten, entspricht der synästhetischen Vielfalt,
die heute das Komponieren im weitesten Sinne beschreibt: Klangkunst,
Klangsuche, Stimmvirtuosität, Spielaktionen, visuelle Ausdrucksmittel
und Raumdramaturgie fließen zusammen. Ute Wassermanns „fausse
voix“ für Stimme und Klanginstrumentarium überträgt
Vokalschwingungen mittels eines präparierten Lautsprechers
auf einen Gong, der „mit der Stimme zu singen beginnt“.
Die Assoziation an das mythologische „Haus der Fama“,
in dem sich die Stimmen und Geräusche der Welt bündeln,
liegt nahe. Beat Furrer hat dieses Prinzip schon in seiner „Fama“-Oper
adaptiert. Hanna Hartmans Performance „Arba Da Karba“
für Objekte erzeugt mit riesigen Nadeln und vielen Dosen eine
magische Klanglandschaft, wobei als Pointe aus einer der Dosen eine
hohe weiße Dampfwolke entweicht: Etwas Zauberei gehört
auch zu dieser Art von Klangkunst.
Wo,
bitte, geht‘s nach Kolchis? Wolfgang Rihm, Peter Ruzicka
und Stefano Gervasoni bei den Wittener Kammermusiktagen.
Foto: Charlotte Oswald
Was an der Arbeit von „Les femmes savantes“ gefällt,
sind die Phantasiefülle, die aus den einzelnen Stücken
spricht, das rasche Reagieren der fünf Künstlerinnen aufeinander
und eine perfekte Synchronität, etwa in Andrea Neumanns „4
Akteure“ für ebendiese und Zuspielband. Die Klang- und
Spiellandschaften der „Femmes savantes“ wirkten wie
ein Grundthema der Wittener Kammermusiktage. Harry Vogt als künstlerischer
Leiter besitzt eine unerschöpfliche Begabung, immer wieder
neue thematische Fragestellungen zu formulieren, um in den stilistisch
oft unübersichtlichen Hervorbringungen der Gegenwartskomponisten
Tendenzen, Analogien, Reizwerte aufzuspüren. Diesmal knüpfte
er an Rainer Maria Rilke an, an dessen Bemerkung von der Musik als
„hörbarer, allerdings nicht bewohnbarer Landschaft“
– ein topographisches Motiv, das sich durch das Programm der
sechs Konzerte mit rund zwanzig Uraufführungen und einem halben
Dutzend deutscher Erstaufführungen wie ein roter Faden zog.
Wenn Iris ter Schiphorst auf dem Hintergrund gegenwärtigen
politischen Geschehens ihr Ensemble-Stück „Zerstören“
komponiert, schlägt sich darin auch die seelische Belastung
des einzelnen durch die äußeren Katastrophen nieder.
„Zerstören“ ist in seinen Klangschichtungen, Erregungssequenzen,
psychisch spürbaren Vibrationen und Geräuschattacken eine
Reaktion auf die Realität – eine Art komponierter Notwehr.
Fast idyllisch geht es danach in Richard Rijnvos’ „mappamondo“
für Stimme, Tuba und Ensemble zu: komponierte Reflexion auf
den venezianischen Kartographen Fra Mauro, der um 1450 in seiner
Mönchszelle auf der Insel San Michele seine berühmte Weltkarte
entwarf, allein aus den Berichten von Seefahrern und Handlungsreisenden,
die ihn in seiner Zelle aufsuchten. Ein reisender Musiker, ein Tubaspieler,
findet sich auch unter den Informanten. Und mit der Tuba vollzieht
der Komponist zuletzt den Sprung in unsere Zeit, zu Luigi Nono.
Topographisches ließe sich notfalls auch aus dem Schriftbild
einer Partitur ableiten, oft genügt schon die Feststellung,
dass ein Stück gut komponiert ist und interessante Perspektiven
eröffnet, wie etwa Rolf Riehms „aprikosenbäume gibt
es...“ auf einen Text der dänischen Dichterin Inger Christensen.
Sie sprach ihren Text mit weicher, schmeichelnder Stimme selbst
in Riehms komponierte Öffnungen hinein.
Zu dem Sprachklang tritt als zweite Rezitation eine Kontrabassklarinette
hinzu, hervorragend gespielt von Theo Nabicht, wodurch die Musik
besondere Plastizität erhält. Einen ähnlich starken
Eindruck hinterließ ein neues Werk der Argentinierin Maria
Cecilia Villanueva: „Cuatro esquinas“ für Klavier
zu vier Händen. Innerhalb der „vier Ecken“, die
einen historischen städtebaulichen Grundriss von Buenos Aires
assoziieren, drängt die Komponistin mit mehrfachen Anspielungen
(darunter auch Wagners „Parsifal“) ihr Material sehr
dicht zusammen: ein konzentriertes Stück von großer innerer
Spannung. In die Klanglandschaft der Kammermusik ist in diesem Jahr
mit überraschender Energie das Streichquartett zurückgekehrt.
Mit neuen Werken von Jonathan Harvey, Peter Ruzicka, Brian Ferneyhough
und Stefano Gervasoni präsentierte sich zugleich das Arditti
String u u Quartet in teils neuer Besetzung. Neben dem unverändert
jungen Primarius Irvine Arditti spielen jetzt der Cellist Lucas
Fels und Ashot Sarkissjan (zweite Violine) sowie der Bratscher Ralf
Ehlers.
Harvey erweitert in seinem Quartett Nr. 4 mittels Live-Elektronik
den Klang der Instrumente um eine faszinierende räumliche Dimension,
die eine eigene Phantastik gewinnt. Ruzickas Streichquartett Nr.
5 mit dem Titel „Sturz“ assoziiert Bewusstseinsverschiebungen,
die sich während eines langen Flugs des Komponisten einstellten.
Klingend reflektiert wird ein Ausschnitt davon – davor und
danach exekutieren die Musiker ein tonloses Spiel. An Ferneyhoughs
String Quartet Nr. 5 beeindruckt vor allem die Verdichtung des Materials,
die eine entsprechende Innenspannung evoziert.
Schweizerische Färbung brachten Michel Roth, Annette Schmucki
und Mischa Käser mit ihren Vokalkompositionen in das Programm.
Käsers Präludien 1 bis 8 für sechs Stimmen bieten
ein Kompendium von Stimmklangfarben. Annette Schmucki punktiert
gleichsam Textpartikel von Oskar Pastior mit Klangmaterialien, Michel
Roth demonstriert, dass man auch Reisenotizen in Klang übertragen
kann.
Das ensemble recherche, das neben dem ensemble ascolta, dem ensemble
resonanz und dem Asko-Ensemble Garant für das hohe interpretatorische
Niveau der Konzerte sorgte, brachte neben Wolfgang Rihms Ensemblestück
„Blick auf Kolchis“ als Uraufführungen Mathias
Spahlingers Sextett „fugitive beauté“ (nach einem
Gedicht Baudelaires) und Hans Abrahamsens „Schnee“ zu
Gehör.
Spahlinger führt das dreigeteilte Sextett (Oboe/Flöte
und Violine/Bassklarinette, Viola und Cello) in einer komplexen
Zeit- und Tempostruktur zu raffinierter Korrespondenz mit dem Baudelaire-Text.
In seinen zwei Kanons für Klavierquartett oder Ensemble verrät
Abrahamsen ein subtiles Empfinden für differenzierte Klangauffaltungen.
In Witten war Rilkes „hörbare Landschaft“ sehr
wohl bewohnbar. Die Tage neuer Kammermusik sind unverändert
quicklebendig.