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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 15
55. Jahrgang | Juni
Medien
Selbstamputation von NDR Kultur geht weiter
Jürgen Kestings „Große Stimmen“ abgesetzt
Dienstagabend 21 Uhr: Eine Gruppe von Musikstudenten findet sich
wie stets zu dieser Stunde erwartungsvoll vor dem Radio zusammen,
um Jürgen Kestings Sendung „Große Stimmen“
auf NDR Kultur zu verfolgen und danach bis tief in die Nacht hinein
stürmisch über technische Details des Belcanto zu disputieren.
Zur gleichen Zeit parkt Krankenschwester Gertrud auf dem Weg nach
Hause ihren Wagen am Straßenrand, um ganz Ohr sein zu können,
wenn Kesting ihren Tenorfavoriten Rolando Villazón unter
seine kritische Lupe nimmt. Und auch die älteren Eheleute,
für die der Weg in die Staatsoper in letzter Zeit so beschwerlich
geworden ist, freuen sich, dass Deutschlands Stimmenexperte ihnen
die Welt des unerschöpflichen Abenteuers Oper ins Wohnzimmer
bringt. Die unübertroffene Kombination von exorbitanter Fachlichkeit,
Enthusiasmus und philosophischer Weltläufigkeit hat aus Kestings
Stilgeschichte des Singens Sternstunden für die Vokalmusik
im Funk gemacht.
Eine Sendereihe, die – mitunter auch im Widerspruch zum Urteil
des Autors – das Hören schulte und für viele Menschen
das Tor zum Lebenselixier Oper weit aufgestoßen hat. Eine
Radiostunde mit Kultstatus – nur nicht für die Programmverantwortlichen
von NDR Kultur, denn seit Mitte Februar schweigen die „Großen
Stimmen“. Ohne jede weitere Erklärung zur heimlichen
Beerdigung der Reihe ließ NDR Kultur seine Hörer dienstagabends
fortan vergeblich warten. Barbara Mirow, seit 2003 Leiterin des
Hörfunkprogramms, steht für ein Gespräch über
die Gründe für die Absetzung nicht zur Verfügung
und teilt lediglich per E-Mail mit: „Darüber, dass auf
dem Sendeplatz der Großen Stimmen nach zwölf Jahren eine
programmliche Abwechslung dringend Not tat, bestand auch mit dem
Autor großes Einvernehmen.“ Jürgen Kesting weist
diese Darstellung entschieden zurück: „Die Erklärung
von Frau Mirow ist eine dreiste Lüge. Ich habe ein eindeutiges
Interesse daran, diese Sendung fortzusetzen.“ Warum sollte
sich der Autor auch seiner eigenen Arbeit berauben? Wo die Argumente
ausgehen, versucht man es bei NDR Kultur offenkundig mit faulen
Tricks. Das bekamen auch diejenigen Hörer zu spüren, die
sich schriftlich bei Kesting erkundigten und keine Nachricht erhielten.
Dazu berichtet Kesting: „Seit die Große-Stimmen-Reihe
beendet wurde, steht bei mir das Telefon nicht still. Ich wurde
gefragt, warum ich denn auf briefliche Nachfrage – an mich
über den Sender persönlich adressiert – nicht geantwortet
habe.
Der Grund: Die Briefe wurden geöffnet und nicht weitergeleitet.“
Erst mit Hilfe eines Rechtsbeistandes konnte Kesting in den Besitz
einiger der für den NDR wenig schmeichelhaften Schriftstücke
gelangen. Mit der Affäre um die „Großen Stimmen“
ist sowohl in puncto der Manieren als auch was die Programmreform
betrifft eine neue Eskalationsstufe bei der Vulgarisierungskampagne
der Kulturwelle erreicht. Nachdem das Tagesrepertoire weitgehend
auf das Niveau eines Nebenbeiprogramms unter Ausschaltung der denkenden
Aktivität der Hörer abgesenkt wurde, gerät jetzt
der Abend ins Visier. Mittlerweile scheint man beim NDR den intellektuellen
Level der Hörer so gering einzuschätzen, dass man ihnen
Kestings beherzte Expertisen nicht mehr zumuten mag. In der Nachfolgesendung
„Klassik für Neugierige und Liebhaber“ werden die
Musikfreunde darum ersatzweise zum Beispiel über „die
beliebten Handy-Klingeltöne von Edvard Grieg“ aufgeklärt.
Was Frau Mirow unter Kultur versteht, hatte sie schon zu Beginn
ihrer Amtszeit in einer berüchtigten Stellungnahme definiert:
„Kultur ist nicht nur Bayreuth, Salzburg, Klagenfurt, auch
große Popkonzerte gehören dazu. Alltagskultur ist für
mich zum Beispiel auch der neue Golf aus Wolfsburg.“
Indes formiert sich massiv öffentlicher Widerstand gegen die
Tyrannei der inhaltlichen Nivellierung. Am 8. Juni veranstaltet
die Initiative „Das GANZE Werk“ („www.dasganzewerk.de“)
in Hamburg eine Podiumsdiskussion: „NDR Kultur – Wird
der Kulturauftrag noch erfüllt?“ Teilnehmer sind neben
Jürgen Kesting und Barbara Mirow auch Michael Plöger von
der Programmdirektion Hörfunk des NDR und nmz-Herausgeber Theo
Geißler. Unter den Besuchern werden viele der vom NDR versetzten
Hörer der „Großen Stimmen“ erwartet. Bei
alldem geht es aber nicht etwa um die Spiegelfechtereien nostalgisch
gesonnener Klassik-Liebhaber, sondern um den Rang, den Kunst und
Musik als unverzichtbare Formen menschlicher Selbsterkenntnis und
als Kräfte gegen das gedankenlose Dahindämmern künftig
im Rundfunk haben sollen. Autos können nämlich bekanntlich
nicht singen.