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nmz-archiv
nmz
2006/06 | Seite 56
55. Jahrgang | Juni
Musikvermittlung
„Die ersten Minuten sind bei einer Begegnung entscheidend“
Christoph Spering realisiert an der Philharmonie Essen einen
Beethoven-Zyklus auf Originalinstrumenten
Mit der Rubrik „Musikvermittlung im Konzert“ assoziieren
die meisten Leserinnen und Leser Veranstaltungen für ein junges
Publikum. Der folgende Artikel berichtet auf anschauliche Weise
von einem „Unterricht im Konzertsaal“ für die ganze
Familie.
Ein Samstag in der Essener Philharmonie: „Matinee“
steht auf dem Programm, Beethovens sechste Sinfonie, die „Pastorale“,
mit dem Neuen Orchester unter Christoph Spering. Auf den ersten
Blick nichts Ungewöhnliches. Das Stück ist Standardrepertoire
und der Name Christoph Spering steht nicht zum ersten Mal auf der
Konzertübersicht des Hauses. Das Konzert an diesem Samstag
allerdings unterscheidet sich durchaus von den anderen. Zunächst
ist da der Zeitpunkt, an einem Samstagvormittag. Und nicht nur das.
Christoph Spering und sein Orchester gelten als Spezialisten für
Alte Musik. Da liegt der Verdacht nahe, dass der Beethoven an diesem
Morgen etwas anders klingen würde. Zu Recht, Beethovens Sinfonie
Nr. 6 erklang auf Originalinstrumenten. Eine Umstellung für
jeden, der mit dem Namen des Stückes und seines Komponisten
á priori voluminösen Orchestersound verbindet. Und damit
nicht genug: Der Dirigent erklärte und erläuterte die
Sinfonie, bevor sie en suite erklang. Die Zuhörer waren eingeladen,
sich mit den Hintergründen des Werks und seinem Aufbau vertraut
zu machen, die Charakteristik einzelner Instrumente unterscheiden
zu lernen. Die Reaktion des Publikums auf Spering bestätigt
die Entscheidung von Intendant Michael Kaufmann für diesen
Künstler. Das „Neue Orchester“ ist übrigens
bisher das einzige deutsche, das die neun Sinfonien Beethovens in
ihrer Gesamtheit auf historischen Instrumenten live zur Aufführung
bringt. Darüber sowie zum „Unterricht im Konzertsaal“
und über andere Themen unterhielt sich die nmz mit Christoph
Spering.
nmz: Herr Spering, Sie genießen den komfortablen
Umstand regelmäßiger Gastspiele in einem Haus wie der
Essener Philharmonie. Gleich ein ganzer „Beethoven-Zyklus“
kommt durch Sie zur Aufführung! Enge Bindung ans Haus, künstlerische
Kontinuität, Planungssicherheit, breites Repertoire –
idealer geht es kaum. Da interessiert zunächst: Was prädestiniert
Sie für diese enge Zusammenarbeit? Kam der Vorschlag zu diesem
Zyklus von Ihnen oder von Michael Kaufmann? Christoph Spering: Wir kennen uns aus meiner Kölner
Zeit und haben schon damals zusammengearbeitet. Er kannte Aufnahmen,
von denen tatsächlich der überwiegende Teil Oratorien,
Requiems und Passionen sind. Irgendwann sagte er zu mir: „Sie
müssen mal von dem Chorsinfonik-Image weg!“ Ich brachte
die Sprache auf den Beethoven-Zyklus – es war der richtige
Vorschlag zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Inzwischen läuft
der Zyklus jetzt über drei Spielzeiten.
nmz: Der Erfolg war so groß, dass Michael
Kaufmann Sie wiederum eingeladen, das Neujahrskonzert 2007 in Essen
zu bestreiten... Spering: Ich finde das bedeutend, was Michael Kaufmann
da in Essen wagt: das typische „Neujahrskonzertpublikum“
erwartet ja eigentlich ein großes Orchester mit opulentem
Klang. Um den zu erreichen, müssten wir doppelt so viel Streicher
und doppelte Bläser auf die Bühne setzen, was natürlich
mit Eintrittsgeldern nicht zu finanzieren wäre. Aber die Leute
vertrauen auf unseren Zugang zu dieser Musik.
nmz: Ihr „Gesprächskonzert“ mit
der sechsten Sinfonie Beethovens war eine Art Musikunterricht. Sie
unterziehen sich einer großen zusätzlichen Mühe,
die von einem Dirigenten gar nicht erwartet werden kann. Warum? Spering: Ich sehe mich zunächst eher im Bereich
der „Erwachsenenbildung“. Die Schwellenangst vor Konzertbesuchen
ist nach wie vor groß. Ich erkenne aber zugleich ein riesiges
Bedürfnis, mehr von der Musik zu wissen, um sie bewusster hören
zu können. Worum es mir geht ist, zu zeigen, dass man der Musik
nicht gerecht wird, wenn man sich nur an die Überschrift hält,
unter der sie nun mal steht: „Die Pastorale“ –
das klingt ganz nett. Aber die Musik ist nicht nett. Ich denke,
es ist auch für den Zuhörer bereichernd, zu erkennen,
wie bei Beethoven zum Beispiel die Motive verzahnt sind, wie er
instrumentiert, mit Tonarten umgeht. Ich sehe so ein Gesprächskonzert
als den Versuch, dem Konzertbesucher einen Einblick in die Werkstatt
des Komponisten zu schaffen. Dann versteht man auch als Konzertbesucher,
dass Beethoven in seiner sechsten Sinfonie nicht einfach illustriert
und mit Tönen das Bild einer Idylle malt. Wir wollen übrigens
in derartige Erlebnisse auch Jugendliche einbeziehen. Geplant ist
so eine Art „Familienakademie“: Eltern und ihre pubertierenden
Kinder im Alter ab elf Jahren kommen gemeinsam ins Konzert, erleben
die Musik miteinander und erfahren etwas über das Stück,
den Komponisten, das Orchester. Für Kinder und Jugendliche
wird ja schon eine ganze Menge getan, aber für die Eltern viel
zu wenig.
nmz: Ihr Orchester dürfte im Wesentlichen
dem Klangbild entsprechen, wie man es zu Beethovens Zeit gewöhnt
war: Naturhörner und -trompeten, Streichinstrumente mit Darmsaiten.
Die Aufführungspraxis der letzten 150 Jahre hat jedoch ein
anderes Klangbild geschult. Haben Sie das Empfinden, heute gegen
diese Entwicklung anspielen zu müssen? Spering: Ich habe den Eindruck, dass viele das
gar nicht richtig merken. Die können nur sagen, das war irgendwie
nicht so richtig voll im Klang, und die Pauke klang wie eine Hutschachtel…
Wir spielen nicht nur Beethovens Neunte mit dem Instrumentarium
aus jener Zeit, also mit Naturinstrumenten. Wir spielen auch Schumann
und Brahms, die übrigens neben den gängigen Ventilhörnern
auch noch Naturhörner benutzten, und wir spielen Mendelssohn.
In dessen Sinfonie Nr. 5, der „Reformationssinfonie“,
gibt es eine Stelle, die wir nicht mit den normalen Naturtrompeten
spielen können. Wie hat das Mendelssohn gemacht, wo es doch
die Ventiltrompete noch nicht gab? Nun, er hatte seinerzeit so genannte
„Stopftrompeten“ zur Verfügung, spezielle Instrumente,
die es heute nicht mehr gibt und die bislang noch nicht wieder nachgebaut
worden sind. Das hängt sicher damit zusammen, dass es wenig
komponierte Stellen für diese speziellen Trompeten gab, so
dass sich ein Nachbau nicht wirklich lohnt. Deswegen benutzen auch
unsere Trompeter an diesen Stellen eine Ventiltrompete. Ich möchte
erreichen, dass die Leute mit ihren auf „laut“ getrimmten
Ohren auch diese Töne wieder wahrnehmen, dass sie sensibel
werden für den Klang der Originalinstrumente und auch für
den Ablauf von Musik.
nmz: Eigenen Auffassungen geht auch die Auseinandersetzung
mit denen anderer voraus. Bei wem sind Sie eigentlich „in
die Schule“ gegangen? Spering: Bei so unterschiedlichen Persönlichkeiten
wie Reinhard Goebel und Gerd Albrecht, der eine mehr ein Kammermusiker,
der andere ein Spezialist für die große sinfonische Form.
Ich gehöre zu der Generation von Dirigenten, die ihre Erkenntnisse
der Aufführungspraxis Alter Musik auch modernen Orchestern
vermitteln wollen. Ich habe in der Kölner Philharmonie bei
allen großen Dirigenten in der Probe gesessen. Ich bin Nikolaus
Harnoncourt nachgereist, John Elliott Gardiner oder Roger Norrington,
von dem ich übrigens sehr viel halte. Ich glaube, man muss
sich wirklich sehr viel umschauen, sehr viel zuhören, zumal
der Umgang mit Orchestern in erster Linie ein psychologisches Phänomen
ist.
Ich kenne Kollegen, die nach vierzig Jahren Berufspraxis genau wie
ich noch immer, trotz allen Studierens, vor jeder Probe mit einem
neuen Orchester unendlich nervös sind. Die ersten Minuten sind
bei so einer Begegnung entscheidend