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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 47
55. Jahrgang | Juni
Bücher
Pierre Boulez und die Bayreuther Festspiele
Ein kritischer Rückblick anlässlich einer Buch-Neuerscheinung
Karl-Ulrich Majer/Hella Preimesberger (Hrsg.): Pierre Boulez in
Bayreuth. 1966–68, 1970, 1976–1980, 2004–2005.
Palladion/Ellwanger, Bayreuth 2005, 128 S., € 18,00, ISBN 3-925361-53-7
Pierre Boulez’ Wirken in Bayreuth stand unter dem Zeichen
des Regietheaters und des Skandalons. Wieland Wagner, der szenisch
neuschöpferische Enkel, hatte Boulez für seine „Parsifal“-Inszenierung
im Jahre 1966 erstmals nach Bayreuth geholt, weil er mit ihm große
Pläne hatte, aber dann starb Wieland Wagner im selben Jahr,
und Boulez entwickelte seine „Parsifal“-Deutung von
einer völlig kargen Klanganalyse des ersten Jahres bis zur
Schallplattenaufzeichnung im Jahre 1970 hin zu einem modifizierten
Neuansatz, der gleichwohl den Traditionen verpflichtet blieb.
1976 kehrte er zurück, als Dirigent des so genannten „Jahrhundert-Ringes“.
Seine Mitwirkung hatte er vom Engagement des jungen Regisseurs Patrice
Chéreau abhängig gemacht. Entsprechend trafen auch ihn
die Wellen der Aufgebrachten – im Publikum, aber auch im magischen
Abgrund selbst. Auch diese Deutung machte eine hörbare Entwicklung
durch. Faszinierend ist Boulez’ Kongruenz zur Szene, die so
weit ging, dass er etwa beim Staukraftwerk des Rheins im ersten
Bild des „Rheingolds“ das Ostinato so hervorkehrte,
dass der Basston wie ein Maschinengeräusch wirkte.
Als dritte Tat für die Bayreuther Festspiele interpretierte
Boulez erneut Wagners „Bühnenweihfestspiel“, nun-mehr
in der afrikanischen Woodoo-Sicht Christoph Schlingensiefs. Aller-dings
löste sich das „Parsifal“-Regieexperiment längst
nicht so überzeugend wie einstens Chéreaus Neusicht,
der Boulez bis zum letzten Wiederholungsjahr verbunden blieb. Den
neuen „Parsifal“ leitete er in Bayreuth nur zwei Jahre.
Eine ungewöhnliche Bayreuther Abschiedspremiere gab Pierre
Boulez mit den Wesendonck-Liedern in einem Gedenkkonzert zu den
Todestagen der Festspielleiter Cosima und Siegfried, sowie Winifred
Wagner, bei dem die Mitwirkung aller Festspieldirigenten geboten
war. Und mit der Wahl der Wesendonck-Lieder als Programmpunkt riss
der Neutöner – zumindest für Eingeweihte –
erneut Mauern ein, denn Winifred Wagner hatte sich einst die Aufführung
der Wesendonck-Lieder verbeten mit den Worten: „In der Stadt,
die ihre kulturelle Bedeutung neben dem Meister in allererster Linie
seiner Gattin Cosima verdankt, empfindet die Familie Wagner es als
taktlos, in der Öffentlichkeit gerade an einem solchen Gedenktag
Richard Wagners in Verbindung mit Mathilde Wesendonck zu gedenken.“
So protestierte die NS-Festspielchefin Winifred Wagner im Jahre
1944, als man an Wagners Todestag in Bayreuth die Wesendonck-Lieder
aufführen wollte. Boulez ließ nun ausgerechnet im Konzert
zu ihrem Gedenken, jene Wesendonck-Lieder erklingen. Aber der für
seine rasanten Tempi bekannte Neutöner hatte noch eine weitere
Überraschung parat: er machte nicht nur die Verwandtschaft
dieser „Tristan“-Studien mit dem französischen
Impressionismus hörbar, sondern er ziselierte die fünf
Gedichte in Felix Mottls Instrumentierung mit ungewöhnlicher
Breite (Die Sopranistin Ricarda Merbeth verfügte nicht über
genug Atem und Stimmvolumen für solche Tempi, und dass das
Bayreuther Publikum diese Lieder kaum kennt, war daran zu merken,
dass nach jedem Lied der zyklischen Komposition Applaus einsetzte).
Ein Buch des Bayreuther Ellwanger-Verlages feiert nun „Pierre
Boulez und die Bayreuther Festspiele“ in Erinnerung an die
nahezu hundert Auftritte des Dirigenten im magischen Abgrund und
an Boulez’ historisch bedeutsamen Beitrag zur Wagner-Rezeption.
Der von Karl-Ulrich Majer und Hella Preimesberger herausgegebene
Band enthält zahlreiche farbige Bühnenfotos der von Boulez
dirigierten Produktionen, aber leider auch viel Werbung. Um so mehr
überzeugen die gesammelten Aufsätze des klug analysierenden
Dirigenten. Sie kreisen naturgemäß um Richard Wagner,
aber behandeln auch Cosima Wagners Tagebücher und den amtierenden
Festspielleiter Wolfgang Wagner (unter der Überschrift „Festspiel
als Beruf“). Ein echter Gewinn ist die Erstveröffentlichung
des Briefwechsels zwischen Wieland Wagner und seinem Wunschpartner
am Dirigentenpult. Anlässlich von Boulez’ erstem Wagner-Dirigat
hatte ihm Wieland Wagner aus dem Krankenhaus geschrieben: „Die
Tatsache, dass der für mich größte lebende Komponist
sich des ‚Parsifal’ annimmt und damit dieses Werk wieder
im Sinne Richard Wagners als lebendiges Kunstwerk dirigiert, ist
für mich eine besondere Freude und ein besonderes Glück...“
Die Herausgeber verstehen „Bayreuth“ offenbar nur als
Synonym für die „Bayreuther Festspiele“. Deshalb
sei ergänzend darauf hingewiesen, dass Boulez in Bayreuth nicht
nur auf dem grünen Hügel dirigierte, sondern auch mit
den jungen Künstlern des Internationalen Jugend-Festspieltreffens.
Hier leitete er 1968 die „Exerzitien für den Orchesternachwuchs“
und 1970 einen Orchesterkurs mit Werken von Debussy, Varèse,
Messiaen und Boulez, sowie Igor Strawinskys „Les Noces“.
Dieses Konzert war Manifest des Brückenschlags zur Moderne,
den der Dirigent aber bereits mit seiner Interpretation von Richard
Wagners letzter Partitur vollzogen hatte.