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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 45
55. Jahrgang | Juni
Rezensionen-CD
Reise nach Andernach
Betancorband: hispanoid. Traumton records.
Eine Frau sitzt in der Bahn, fantasiert und löst die kniffligsten
Preisrätsel in DB-Zeitschriften, was ihr aber in ihrer Einsamkeit
auch nicht weiterhilft: „was nützt es man weiß
die kniffligsten Fakten und hat keinen Geschlechtsverkehr“.
Diese andere, sexbedürftige Molly Bloom klammert sich an vorbildhafte
Väter und Brüder: Michel Houellebecq, der nicht nur „hilfreiche“
Bücher schreibt und seine vertrackte „Vorbildfunktion“
erfüllt, sondern auch noch so schön dichten und singen
kann. Und warum fährt sie ausgerechnet „zum Ficken nach
Andernach“? Man ahnt es schon. Weil das die Heimat des wüsten
Erotomanen mit dem romantisch-gebrochenen Herzen Charles Bukowski
ist.
Meint Popette, die hier, als eine unter vielen Masken, nur unter
dem Familien- und Bandnamen Betancor auftritt, das alles ernst?
Oder ist es spitze Ironie und schwarzer Zynismus? Jedenfalls ist
„hispanoid“ sehr viel mehr als „nur“ ein
Album mit leitmotivisch aneinander gereihten Songs. Es sind komplexe
Welten, die sie in diesen brüchigen Kurzgeschichten entwirft,
man findet nicht mehr so leicht aus ihnen heraus. Und die merkwürdig
zerstückte und doch stets rhythmische und suggestive Musik
tut das ihre dazu, dass man am Ende den roten Faden in diesem Labyrinth
nicht mehr vermisst, sondern sich den Betancor-Erzählungen
aus dem Weltalltag der Epoche bereitwillig hingibt. Ziemlich spanisch
kommt einem manches vor, nicht nur wegen des Hineingleitens in diese
andere Sprache mitten in vielen Liedern, und anderes wiederum fremd-vertraut.
„Hispanoid“ ist eine ziemlich „gebildete“,
man könnte auch sagen referentielle Platte. Auf Schritt und
Tritt begegnen einem Klassiker, aber so verformt oder deformiert,
dass man zunächst irritiert ist. Astor Piazzollas „Libertango“,
den Grace Jones vor einem Vierteljahrhundert zur schwermütig-schwülen
Hymne aller Nachtschwärmer machte, nutzt Betancor zur Abrechnung
mit einer Freiheits-Rhetorik, die nur die harte Tatsache verdeckt,
dass in der schönen neuen Welt des Neo-Liberalismus jeder schauen
muss, wo er bleibt, und ohne übertriebenen Schutz den Zumutungen
der Arbeitswelt zur Verfügung zu stehen hat, bei Strafe des
Untergangs. In „Mundo material“ verkehrt sie Madonnas
frivoles Bekenntnis aus den 1980er-Jahren („Material Girl“)
zu einem illusionslosen Statement über den Stand der Dinge:
„Wir leben alle in materialistischer Welt/und alle sind wir
nichts ohne Geld.“
Nachrichten aus dem „Prekariat“, also der Welt der
Praktikantinnen und einer Bohème mit Schreibblockade, könnte
man diese Betancor-Postmoderne überschreiben, wo ständig
zitiert wird und noch das Vertrauteste einen surreal-wunderlichen
bösen Dreh bekommt; so sehr, dass selbst dem überlebensgroßen
„role model“ Bob Dylan, das natürlich auch seine
maskierten Credits bekommt, Hören und Sehen vergeht. Die letzte
Katastrophe aber, „Hausverbot by h & m“, kontert
Betancor mit dem Brecht-schen, die vertrauten Bibelworte vom Kopf
auf die Füße stellenden, Bekenntnis zur Rebellion: „wer
hat dem wird genommen.“ Das bedeutet hier nicht: Weltrevolution,
sondern kleinere Kaufhausdiebstähle, hier und da. Und wer assistiert
Brecht und Betancor bei diesen Selbstbehauptungsversuchen? „Marx
und Lafontaine.“ Das nennt man dann wohl Ironie der Geschichte.