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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 45
55. Jahrgang | Juni
Rezensionen-CD
Eher reinhören als hinfahren
Wie sich neue Pop-Platten auf dem Markt der Livekonzerte spiegeln
· Von Sven Ferchow
Der Open-Air-Sommer kommt. Bald wüten die Heiligen der Popwelt
wieder auf den überteuert gesponserten Bühnen (Rolling
Stones, Guns’n’Roses, Bon Jovi uvm.). Die wahren Mächtigen
jedoch veröffentlichen unaufgeregt Alben, geben gerade drei
(Red Hot Chili Peppers) Konzerte oder gar nur ein Gastspiel (Pearl
Jam) in Deutschland. Der Tipp für diesen Sommer: siehe Titel.
Die allerletzten Rocker aus Seattle bleiben Pearl Jam. Die Mannen
um Sänger Eddie Vedder verabschieden sich polternd und final
von Grunge mit ihrem achten Studioalbum „Pearl Jam“.
AC/DC Riffs, U2 lastige „Delay“- Gitarren, Refrains
mit Gruppenzwang- Atmosphäre, Punkmusik. Dazu ein aufbrausender
Sänger, der cholerisch sein darf, aber bei den obligatorischen
US-Balladen sein weltberühmtes Timbre zum Zittern bringt. Ein
Richtwert für kommende Generationen.
Weitere Helden mit neuem Album sind die Red Hot Chili Peppers.
„Stadium Arcadium“ tauften sie gnädig ihr Doppelalbum
mit 28 Songs. Ein Album, das jedoch Selbstüberzogenheit mehr
als verdient. Zum Funk zurück sind sie gekehrt. Geleitet vom
grandiosen Gitarristen John Frusciante, dessen mittlerweile zehn
Soloalben deutliche Einschläge auf die Musik der RHCP zeigen.
Trotzdem gibt es neben Funk auch Stadionrock und die klassischen
Peppers „Romantik-Oden“. Muss man besitzen. Eine völlig
andere Heldinnenverehrung wird uns durch das David Klein Quintett
zuteil. „My Marilyn“ ist die Hommage des Schweizer Tenorsaxophonisten
an die Monroe. Ein Album, das zum Start des Marilyn Monroe Musicals
noch einmal neu aufgelegt wird. Die Filmsongs der MM hat David Klein
von der staubigen Patina freigelegt und modern aber ursprünglich
transformiert. Ein Hochgenuss, der nicht umsonst lange in den Jazzcharts
vertreten war.
Befreit vom Starpathos gehen Schorsch & de Bagasch mit ihrem
„sekänd händ blues“ zu Werke. Gereinigt vom
Schmutz des Kommerzes gibt es bayrische Mundart, lakonischen Gesang
mit treffsicherer Umweltbeobachtungsgabe und Blues, dem man Erfahrung,
Lust und Willen anmerkt. Gestandene Mannsbilder geben sich die bayrische
Ehre und kommen jede Sekunde des Albums ohne Effekthascherei oder
Aufgesetztheit aus. Zweite Reihe trifft bei Garland Jeffreys nicht
so ganz zu. Schließlich arbeitet er oft mit Bruce Springsteen
oder Lou Reed. Aber vorne ist er in Europa doch nicht, obwohl man
den Hit „Return of the Matador“ durchaus kennen müsste.
Seine Kompilation der besten Songs seiner Karriere umfasst neben
zwei neuen Songs sechzehn Klassiker, die ihn begehrt machten. Schöne
Reise in schöne Zeiten. Travis Blaque stellt sein erstes Soloalbum
„The Many Facets Of“ vor. Astreiner Soul trifft auf
Hip Hop der so genannten „Neuen Britischen Schule“.
Will heißen: Alles gemäßigter, nicht der Show untergeordnet,
sondern mit Gefühl und Musik. Flutscht ungeheuer geradlinig
bei Travis Blaque.
Die österreichische Band Julia umspielt mutig die Klippen,
an denen man sich als junge Band mit Rockgitarrenmusik schneiden
kann. Zwar ist „Sunrise“ astreiner Collegerock in dessen
Gehegen sie wüten, aber pomadig wirkt es nie. Bodenständig
vermitteln Julia ihre Lust am Spielen und an der Musik. Und so vermeidet
man platte Refrains, uralte Riffs und behäbige Songstrukturen.
Eine warme Brise aus dem Alpenland. Aufrichtige Rockmusik kommt
aus Jacksonville, USA. Shinedown geben sich mit „Us and Them“
zum zweiten Mal die Ehre und überzeugen. Die Gitarren zuverlässig
und wahrhaft an der alten Rockschule ausgerichtet, die Songs hart
aber mit Hitpotential. Allerdings nie schmonzettenhaft wie 3 Doors
Down. Shinedown bewahren sich Charakter und Härte. Gnadenloses
Rockalbum.
Mit Engerica und „There Are No Happy Endings“ hat
man erst mal ein großes Problem. Der Stilmix aus Rock, Emo,
Hardcore und Düstermetal will nicht so recht die Lauschkanäle
finden. Das ändert sich mit zunehmender Spieldauer. Man entdeckt
Grooves, Ironisches gar und letzt-
endlich einen Happen Rockmusik, den man gerne auf dem Teller hat.
Modernes Album, das sich nicht einordnen lassen will. Gut so. Aus
Glasgow kommen Camera Obscura. Übles befürchtet man da.
Denn eine weitere Band, die nach Franz Ferdinand klingt oder aus
Kunststudenten besteht, bräuchte niemand. Und so freut man
sich bei Camera Obscura nach drei Songs über glasklare Popmusik,
romantische Streicher, theatralische Gitarren und eine blumige Sängerin,
die dem Gebilde ein amtliches Popsiegel verleiht. Eine Freude in
Sachen Rockmusik ist das neue Album der Schweden Paatos. Ist es
Moderner Rock? Post-Rock? Melancholischer Prog? Es ist von allem
reichlich. Detaillierter sind Paatos geworden. Einfühlsamer
aber doch ruppiger. Sängerin Petronella Nettermalm bleibt die
Konstante der Band, doch zeitgleich scheint im Songwriting ein kaum
zu erwartender Quantensprung stattgefunden zu haben. Brüsk
und barsch ecken manche Gitarrenriffs an, dennoch gibt es Gefasstheit,
ja fast Stoizismus, der das vertritt, was man so gerne mit Paatos
verbinden möchte: Die Kunst der Ruhe im dynamischen Umfeld.
Vielleicht der Erlkönig unter den künftigen Rockalben.
Ein brauchbares Album hört man von Neil Young. „Living
with War“ richtet sich unzweifelhaft gegen George W. Bush.
Young selbst ist an der elektrischen Gitarre zu hören, dazu
Chad Cromwell an den Drums, Rick Rosas am Bass und Tommy Bray an
der Trompete. Und ein 100-köpfiger Chor. Oft erreichen die
Songs Tiefe („Restless Consumer“, „Lets Impeach
the President“ mit herrlichen Trompeten), manchmal fehlt die
letzte Konsequenz, die Young allerdings mit Routine und Aura kompensiert.
Typisch eben.
Sven Ferchow
Diskographie
Pearl Jam – Pearl Jam (J Records, 28.4.2006)
Red Hot Chili Peppers – Stadium Arcadium (Warner, 2.5.2006)
David Klein Quintett – My Marilyn (Voice of Joy, 19.5.2006)
Schorsch & de Bagasch – sekänd händ blues
(Point Music, 2.5.2006)
Garland Jeffreys – I’m alive (Universal, 16.6.2006)
Travis Blaque – The Many Facets Of (Unique, 9.6.2006)
Julia – Sunrise (Edel, 16.6.2006)
Shinedown – Us and them (Inkubator, 16.6.2006)
Engerica –There Are No Happy Endings (Sanctuary, 26.5.2006)
Camera Obscura – Let’s go out of this country (Elefant
Records, 26.6.2006)
Paatos – Silence of another kind (InsideOut, 19.5.2006)
Neil Young – Living with war (Warner, 12.5.2006)