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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 44
55. Jahrgang | Juni
Rezensionen - DVD
Carmen im Township und als Ballett-Krimi
Zwei Neubearbeitungen von Bizets Opernklassiker auf DVD
Bizets Erfolgsoper, das urmenschliche Drama von Liebe, Leidenschaft,
Hass, Eifersucht, Verzweiflung, Gewalt und Tod findet in immer neuen
Formen auf die Bühne und in den Film: 1915 war Geraldine Farrar
Cecil B. Demilles Carmen, 1954 Dorothy Dandridge mit Harry Belafonte
als Don José in Otto Premingers „Carmen Jones“,
1983 drehte Jean-Luc Godard sein skandalöses „Prénom
Carmen“ und Carlos Saura seinen begeisternden Tanzfilm, ein
Jahr später schuf Francesco Rosi mit Julia Migenes und Placido
Domingo eine großartige Filmfassung; heute gibt es auf DVD
und Video viele Mitschnitte bekannter Operninszenierungen.
Zwei Neuproduktionen versuchen, das Carmen-Drama neu zu vermitteln.
Mark Dornford-May verlegt mit „U-Carmen e-Khayelitsha“
(Vertrieb: MFA) die Handlung in ein Township bei Kapstadt: Carmen,
Pauline Malefante, ist eine dralle Schwarze, ihr Lover Jongikhya
ein Polizist, Escamillo wird zum Schlagersänger Lulamile Nkomo,
die Schmuggler kommen übers Wasser. Der bekannte Handlungsfaden
bleibt erhalten, alle wichtigen Arien sind zu hören, doch gesungen
wird in Xhosa, der Landessprache, mit deutschen Untertiteln, nicht
unbedingt ein großes Opernerlebnis. Der Verdienst des Films
liegt indessen in der Tatsache, dass er überhaupt entstand
– Interviews auf der DVD lassen erkennen, welche immensen
Probleme zu überwinden waren. Da verzeiht man manche übertriebene
Szenengestaltung, auch hektische Fahrten durch die Slums, Vermischung
von Bizets Melodien mit Volksgesängen und -tänzen, genießt
großartige Luftaufnahmen und Landschaftsbilder und versteht
auch, warum dieser mutige Film auf der letzten Berlinale einen „Goldenen
Bären“ bekam.
Der amerikanische Tanzfilm „The Car Man“ (Warner)
ist da von anderem Kaliber. Rodion Schtschedrin hat schon 1967 Bizets
Musik zu einem neuen Ballett verarbeitet. Der britische Choreograph,
Regisseur und Produzent Matthew Bourne, bekannt geworden mit irritierenden
Versionen der Ballett-Klassiker „Nussknacker“ und „Schwanensee“,
beweist mit seinem neuen Film, dass man Bizets Ohrwurm-Musik auch
einem getanzten Krimi unterlegen und damit alle emotionalen Schleusen
öffnen kann.
Die Story spielt in den 60er-Jahren in Harmony, einem fiktiven
kleinen USA-Städtchen mit italienischen Einwanderern, irgendwo
im heißen Süden. Dino, der schlampige Werkstattbesitzer,
sucht einen neuen Automechaniker und engagiert Luca, einen vorbeikommenden
Macho-Streuner, der viril und sexy alle Gefühle der Dorfbewohner
aufwühlt und durcheinanderwirbelt. Ihm verfällt Lana,
Dinos gelangweilte Frau, doch auch im braven Angelo – er ist
Ritas (Lanas Schwester) friedlich gesinnter Freund – weckt
er bisher ungeahnte homophile Sehnsüchte. Lucas protzige und
gewalttätige Männlichkeit zieht jeden in ihren Bann, es
verlieren sich allmählich alle Hemmungen: als atemberaubendes
Tanzstück – in einer hinreißenden Mischung aus
klassischem Ballett, Modern Dance und Broadway-Show choreographiert
– wirbeln Bizets Carmen-Melodien in Schtschedrins instrumentaler
Verfremdung, zusätzlich von Terry Davies bearbeitet, Menschen
und Gefühle durcheinander: Gewalt, Sexualität. Leidenschaft
und schrankenlose Lebensgier brechen aus, die Gefühle kochen
und dampfen. Heiße Emotionen explodieren, Exzess beherrscht
die Szene. Blut fließt, Dino wird erschlagen und ein unschuldiger
Angelo wird verhaftet.
Wunderschöne lyrische Passagen unterbrechen immer wieder das
hektische Geschehen: Angelo und Lana verlieren sich – jeder
für sich – nach wilder Vereinigung geschmeidig und mit
großartigem Körpereinsatz in intimen Sehnsuchtsfantasien,
die um Luca kreisen; im Gefängnis tanzt Angelo in qualvollen
Bewegungen ergreifend die schicksalhafte Kartenarie aus dem 3. Akt
der Bizet-Oper, kontraststark zur Unschuld Ritas, Bizets Opern-Micaela,
deren Liebe zerstört wird. Denn Rache fordert ihr Opfer. Am
Ende hinterlässt Luca ein Chaos von Schuld, Verrat, Verzweiflung
und Resignation. Dies alles wirbelt in großartig choreographiertem
Tanz über die sparsam ausgestattete Bühne und zieht den
Zuschauer ebenso in Bann wie die Besucher der vielen Vorstellungen
in England und Übersee, stets monatelang ausverkauft. In Schtschedrin-Davies‘
Carmen-Musik erklingen Marimba und Vibraphon; im Torero-Lied –
die ganze Werkstatt-Mannschaft duscht dazu, Körper glänzen,
Haut blitzt auf – verstummt die Melodie, nur noch die drohend-dunkle
Begleitung aus der letzten Opernszene bleibt: es verblüfft,
wie gut Bizets „spanische“ Melodien zu diesen Szenen
passen. Kameraführung und Lichteffekte verstärken noch
die Faszination. Die DVD – untertitelt in vier Sprachen –
enthält ein aufschlussreiches Interview mit Matthew Bourne
zu dieser Produktion. „The Car Man“ ist eine mit filmischen
Mitteln bezwingend eingefangene Ballett-Produktion als rasante Tour
de force des Tanztheaters.