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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 25
55. Jahrgang | Juni
Verbandspolitik
Dreizack
Hans Bäßler im Gespräch
Hans Bäßler ist Professor an der Hochschule für
Musik und Theater in Hannover und Vizepräsident des deutschen
Musikrates. Ein Jahrzehnt lang leitete er als Vorsitzender den Verband
deutscher Schulmusiker (vds). Ende dieses Jahres tritt er von diesem
Amt zurück. nmz-Herausgeber Theo Geißler unterhielt sich
mit Bäßler über Verbandsarbeit und Kulturpolitik.
Hans
Bäßler beim Kongress Musikvermittlung des Deutschen
Musikrates in Wildbad Kreuth. Foto: Martin Hufner
nmz: In überschaubarer Zeit werden Sie sich
vom kultur- und bildungspolitischen Dreizack hin zur Doppelspitze
schärfen und den Vorsitz des VDS abgeben. Wo sehen Sie im Rückblick
ihre größten Erfolge und wo sind – selbstkritisch
– Defizite? Hans Bäßler: Wenn ich an die letzten
zehn Jahre als vds-Vorsitzender denke, freut es mich am meisten,
dass es uns gelungen ist, seitens der Verbände mehr oder weniger
mit einer Stimme zu sprechen. Die Defizite ergeben sich aus der
kulturpolitischen Gesamtlage. Trotz einer gemeinsamen Stoßrichtung
gehen wir, was den politischen Einfluss angeht, immer noch sehr
kleine Schritte. Zweitens: Die Situation der Musiklehrerversorgung
ist in den letzten Jahren noch schlechter geworden. Aber ich möchte
noch einen Punkt nennen, der mich besonders gefreut hat, und das
ist die Situation der Ganztagsschule, die in der Bundesrepublik
in der Vergangenheit sehr kritisch betrachtet wurde. Der Kongress
in Königsstein vergangenes Jahr, den der vds mit dem Deutschen
Musikrat ausrichtete, hat gezeigt, dass wir hier zu Synergieelementen
kommen, die über die Ganztagsschule und die Betreuung am Nachmittag
hinausgehen. Wir haben damit eine Chance bekommen, Schule neu zu
definieren.
nmz: Das Phänomen Ganztagsschule macht eine
bildungspolitische Schieflage besonders deutlich, nämlich ein
Gefälle zwischen den einzelnen Bundesländern. Baut sich
da nicht ein ernsthafter Konflikt mit der grundgesetzlich garantierten
Gleichbehandlung auf? Bäßler: Es ist sicher richtig, dass
die materielle Ungleichheit besonders in der Frage der Ganztagsschule
bundesweit zu einem extremen Gefälle führt. Die Ganztagsschule
hat nur dann eine Chance, wenn sie auch über die personellen
Mittel abgesichert ist. Der Verband der deutschen Musikschulen (VdM)
und auch der Deutsche Musikrat haben jetzt zusammen eine Erklärung
verfasst, die einen Qualitätsstandard einfordern wird. Man
wird jetzt in Verhandlungen mit den einzelnen Bundesländern
beziehungsweise den Kultusministerien sehen müssen, dass man
diese Standards durchsetzt.
nmz: Kann es sein, dass die ehemalige Zersplitterung
der Verbandslandschaft dazu geführt hat, dass die Stimme der
Musik im schulpädagogischen Bereich eine dünne geblieben
ist? Bäßler: Ich will nicht leugnen, dass
es so war. Aber ich will aus meiner Sicht noch einmal sagen, warum
die Situation sich derart zum Guten geändert hat. Es sind ja
nicht nur der VdM, die Bundesfachgruppe Musikpädagogik, der
Arbeitskreis für Schulmusik (AfS), sondern auch ganz anders
gelagerte Verbände, wie die Deutsche Orchestervereinigung,
mit der der vds zusätzlich einen Vertrag zur gemeinsamen Kooperation
abgeschlossen hat. Hintergrund ist, dass wir alle merken, dass die
Situation für die musikalische Bildung nur dann zu retten ist,
wenn wir wirklich mit einer Stimme sprechen. Ich will eins allerdings
nicht verhehlen, dass wir auch als Schulmusiker unsere Schularbeiten
zu machen haben. Der Musikunterricht, so wie er momentan landauf,
landab stattfindet, wenn er denn stattfindet, wird von der Mehrzahl
der Schüler nicht akzeptiert, weil sie selbst mit ihrer eigenen
musikalischen Sozialisation nicht im Unterricht vorkommen.
Das ist der Tod für jeden Unterricht, wenn die Relevanz dessen,
was gelernt werden soll, nicht verstanden wird.
Drei Thesen
nmz: Dazu drei Thesen. These eins: Sollen Mitvierziger-
Musikpädagogen in Schulen mit knackenden Gelenken HipHop tanzen
um sich bei den Schülern verständlich zu machen? Bäßler: Diese Anbiederungspädagogik
ist vollkommener Unsinn. Musikalisch aktives Erfahren, beispielsweise
über das Tanzen, sollten die Kinder und Jugendlichen unbedingt
selbst machen. Das Problem ist, dass die Schule bisher den Rahmen
dafür nicht geliefert hat.
nmz: These zwei: Kinder und Jugendliche nutzen
Musik, um ihren eigenen Lebensraum abgrenzend von der Erwachsenenwelt
zu definieren. Sie wollen vielleicht gar nicht, dass Pädagogen
in dieses ästhetische Ambiente eingreifen. Bäßler: Das ist die schönste Begründung
für Lehrer, die sagen, dass das Wichtigste im ganzen Musikunterricht
Sonatenhauptsatzform und Fugenexposition sind. Die Schülerinnen
und Schüler kommen eigentlich von sich aus in einen Dialog
und zwar in dem Moment, in dem der Lehrer umgekehrt auch diese Offenheit
zeigt.
nmz: These drei: Die musikalische Bildung unserer
Kinder ist in den letzten dreißig Jahren total verkommen.
Es wird nicht mehr gesungen, es haben sich sehr viele Institutionen
unseres öffentlichen Lebens von jeglichem musikalischen Bildungsanspruch
wegentwickelt. Muss man davor kapitulieren, wie es offensichtlich
die Anstalten des öffentlichen Rechtes tun, oder gibt es andere
Wege? Bäßler: Es gibt Sender, bei denen durchaus
inhaltlich gearbeitet wird und die Akzeptanz finden. Bayern 4 Klassik,
Deutschlandradio Kultur oder wdr3 Kultur sind Beispiele dafür,
wie man auf eine sehr sinnvolle Art und Weise diesen musikalischen
Dialog mit der Plattform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
hervorragend nutzen kann. Jetzt aber zu der Frage, ob nicht alles
schlimmer geworden ist. Als ich 1972/73 zu unterrichten begann,
galt alles, was mit den Beatles, Rolling Stones, The Who und Emerson,
Lake & Palmer zu tun hatte, als eine Abkehr von einer qualitätvollen
Musik. Heute kriegen wir Tränen in die Augen, wenn wir die
späten Beatles hören und denken bei Jimi Hendrix, was
für ein raffinierter musikalischer Umgang mit der Gitarre dort
geschieht. Ich vermute mal, dass es in zehn Jahren so sein wird,
dass wir dann sagen, damals, im frühen 21. Jahrhundert, da
hatte man noch die Qualität eines differenzierten HipHop.
Ein anderer Punkt ist der des aktiven musikalischen Verhaltens.
Hier hat es einen Wandel zu einem stärker passiven Konsum gegeben.
Es gilt einzufordern, dass es viele verschiedene Umgangsweisen mit
Musik gibt, und das ist legitim.
nmz: Wie kann eine frühe Musikalisierung
wieder Alltag werden? Bäßler: Bereits bei der Ausbildung unserer
Erzieherinnen gibt es ganz massive Defizite. Es muss versucht werden,
Ersatz für das zu schaffen, was normalerweise in den Familien
stattfinden sollte. Aber das ist ein sehr langwieriger Prozess.
nmz: Wäre es nicht eigentlich auch Aufgabe
der Hochschulen, entsprechende Kompetenzen zu vermitteln? Bäßler: Sie bringen das ganz gut auf
den Punkt. Die Studierenden lernen, eine Bachmotette zu dirigieren,
aber sie lernen nicht, wie man mit Kindern ein einstimmiges Lied
sauber singt und begleitet. Trotz der vorhandenen Ressourcen der
Hochschulen wird das, was wir inhaltlich ausbilden, nicht unbedingt
an der späteren Praxisrelevanz gemessen.
nmz: Ist es nicht die Aufgabe des Musikrates,
an den Hochschulen ein Bewusstsein für diese Fragen zu schaffen? Bäßler: Der Musikrat hat dieses bereits
getan. Der Bundesfachausschuss Musikpädagogik leistete dies
2002 in Kooperation mit der Kultusministerkonferenz in einer großen
Entschließung. Dann hat der Musikrat im letzten Jahr ein Papier
im Zusammenhang mit der Bachelor-/Master-Ausbildung im musikpädagogischen
Bereich verabschiedet, wo wieder diese Orientierung an der schulischen
Wirklichkeit gefordert wird.
nmz: Mitte Mai reiste die Bundeskanzlerin mit
zahlreichen Wirtschaftsbossen nach China. Warum war der Musikratspräsident
nicht dabei, warum kein Kulturvertreter? Ist das nicht charakteristisch
für das Kulturverständnis der Bundesregierung? Bäßler: Die neue Bundesregierung muss
hier meines Erachtens das Feld erst noch erobern und ich persönlich
finde das auch legitim. Für unseren Bereich bedauere ich, dass
die Bundeskanzlerin nur die Wirtschaft und nicht auch die Kultur
einbezieht.
nmz: Wir haben einen Kulturstaatsminister, der
sich offensichtlich eher um das Filmgeschehen kümmert und sich
etwa Interviewanfragen der neuen musikzeitung entzieht. Haben Sie
zu Bernd Neumann schon einen besseren Kontakt gefunden? Bäßler: Nein, bisher noch nicht. Es
wird Mitte Juni ein Gespräch geben, von dem ich mir erhoffe,
dass Akzente der Politik im Bereich der kulturellen Bildung und
hier speziell der musikalischen Bildung gesetzt werden. Ich teile
Ihre Einschätzung: Im Vordergrund der Politik der Bundesregierung
stehen tatsächlich neben der Konsolidierung der Finanzen nur
noch die Wirtschaft und die Technik. Dass die nötige gesellschaftliche
Kreativität nur im Rahmen von Kultur überhaupt wachsen
kann, das wird noch nicht von allen Mitgliedern der Bundesregierung
gesehen.
Was heißt Leitkultur?
nmz: In einem Buch, das Bundestagspräsident
Norbert Lammert – einer der „Leitkultur-Erfinder“
– dieses Jahr herausgeben wird, werden die Ergebnisse eines
Foresight-Prozesses vorgestellt. Dort steht man vor dem Phänomen,
dass es in 20 Jahren, also 2026, nur noch 50 Prozent „deutschkulturell-sozialisierte“
Menschen in unserem Lande geben wird, die anderen 50 Prozent werden
einen anderen kulturellen Hintergrund haben. Gibt es mit Blick auf
diese demographischen Veränderungen Planungen innerhalb des
Deutschen Musikrates? Bäßler: Solch ein Angstbild habe ich
persönlich nicht. Ich glaube, dass wir zu einer stärkeren
kulturellen Praxis in der ganzen Gesellschaft kommen müssen,
ganz grundsätzlich. Diese kulturelle Praxis ist von einer unglaublichen
Vielfalt, das zeichnet unsere Gesellschaft aus. Jetzt kommen wir
zur Leitkultur: Ich würde das Wort Leitkultur am liebsten verbannen,
weil damit bei manchen die Denkweise entsteht, dass am deutschen
Wesen die Welt wieder genesen solle. Wenn man es aber versteht wie
Norbert Lammert, dann soll damit etwas anderes gesagt werden. Leitkultur
wird verstanden als die aufklärerische Potenz unseres Staates,
sich in unserer Verfassung auf bestimmte Grundsätze demokratischer
Art geeinigt zu haben. Was die Schulen angeht, ist das etwas komplizierter.
Die Schulen sind in ihrer heutigen Struktur immer noch sehr häufig
Produkte einer Lernmaschinerie, wie sie im letzten Jahrhundert entstanden
ist. Wenn man Schulen als Räume, um Leben zu entwickeln versteht,
dann sieht die Sache vollkommen anders aus. Dann ist auch das kulturvolle
Miteinander-Leben absolut unabdingbar.
nmz: Zeichnet sich real nicht eine ganz andere
Entwicklung ab: Die Bildungs-Laufbahn geht von der Lernmaschine
Schule hin zu gut mess- und kontrollierbaren Bachelor- und Masterstudiengängen,
an denen fein funktionierende, aber eben relativ schmale Persönlichkeiten
ausgebildet werden, deren kultureller Blickwinkel durch die Scheuklappen
einer technokratischen Effizienz definiert ist? Bäßler: Das ist, glaube ich, ein journalistischer
„Über“-Blick. Bei der ganzen Diskussion über
G8 und den Konsequenzen, die manche aus der Pisa-Debatte ziehen,
bin ich, was die Schulen angeht, eigentlich gar nicht so besorgt.
Ich habe das Gefühl, dass die Ansätze, die in den meisten
Bundesländern angestrebt werden, zu einer Repädagogisierung
im weitesten Sinne führen. Ein konkretes Beispiel ist die Einführung
von Stundenkontingenten in den Lehrplänen, das heißt,
dass die Schulen selbst entscheiden können, wie sie mit einer
bestimmten Zeitressource beispielsweise für den Musikunterricht
umgehen. Es wird so eine höhere Flexibilität ermöglicht
und die Entscheidungen werden auf der Ebene der Schulkonferenz unter
Einbeziehung der Eltern stattfinden. Bezogen auf die Bachelor-/Masterdiskussion
in den Universitäten und Hochschulen habe ich in der Tat Sorge.
Es ist stets weniger Zeit für die Ausbildung zur Verfügung,
es wird sogar mit dem Gedanken gespielt, in die zweijährige
Masterausbildung im Bereich der Lehrerausbildung dann auch noch
die Referendarzeit als Teil aufzunehmen. Ich vermisse in der Diskussion
über die Einführung der Bachelorstudiengänge das
Bewusstsein, dass eigentlich ein Bachelorstudiengang ein polyvalenter
sein sollte, eine in sich abgeschlossene Berufsausbildung, die zu
ganz unterschiedlichen weiteren Bereichen führen soll.
nmz: Haben Sie in Hannover selbst eine Verantwortung
dafür übernommen, dass Bachelor-/Masterstudiengänge
nicht zur Engführung werden? Bäßler: Im Hinblick auf die gestuften
Bachelor-/Masterabschlüsse kann ich nur darauf verweisen, dass
es in Hannover gelungen ist, einen vierjährlichen Bachelor
einzuführen, der bewusst als Bachelor „Musikvermittlung“
sehr viel mehr ist als nur eine erste Phase der Lehrerausbildung.
Hier handelt es sich um einen in sich geschlossenen Studiengang,
an den sich ein spezifischer Lehrer-Master anschließen kann.
nmz: Der neue Deutsche Musikrat wirkt außerordentlich
strukturiert und effektiv. Wo werden denn nun Schwerpunkte gesetzt?
Wo werden die verschiedenen Taue, an denen man zieht, zusammengeknüpft? Bäßler: Es läuft natürlich
alles im Präsidium zusammen und wir haben außerdem eine
Strategiekommission. Die Frage ist dann immer, wie man diese strategische
Ausrichtung in einen Bezug zum Tagesgeschäft setzt. Bezogen
auf die Akzente haben wir einerseits die Frage nach der auswärtigen
Kulturpolitik, andererseits die Frage nach der Konsequenz der demographischen
Entwicklung, sprich die Arbeit mit Musik im dritten Lebensalter.
Wir werden natürlich ganz dringlich auch immer im Sinne des
zweiten Berliner Appells dafür sorgen müssen, dass wir
die kulturelle Position des Deutschen Musikrates nicht als eine
Engführung in Richtung auf „klassische“ Musik reduzieren,
sondern wirklich die kulturelle Vielfalt zur Norm haben. Mir persönlich
– und jetzt kommt ein anderes Tau – liegt natürlich
noch etwas am Herzen, nämlich die Frage nach der Beziehung
von sozialem Lernen und Musik. Wir müssen uns um diejenigen
kümmern, die nor-malerweise nicht mit Musik zu tun haben.
nmz: Der Deutsche Musikrat als bürgerliche
Speerspitze gegen die Ausprägung einer Zweidrittelgesellschaft
in den nächsten zwei bis drei Jahren? Bäßler: Besser kann ich es auch nicht
ausdrücken.
nmz: Danke für das offene Gespräch
– und alles erdenklich Gute für die nächsten 60
kreativen, effektiven Jahre…