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nmz-archiv
nmz 2006/06 | Seite 34
55. Jahrgang | Juni
ver.die
Fachgruppe Musik
Diese Kids, die wachsen ja noch
ReSonanz&AkzepTanz des Salzburger Mozarteums, der Essener
Philharmonie und der Herbartschule
Einmalig: Ein Essener Musikschulprojekt für Integration und
gegen die geistige Verarmung. Auf drei Jahre angelegt ist das Projekt
„ReSonanz &AkzepTanz“, das im September an einer
Essener Grundschule begann, einem sozialen Brennpunkt in der Nordstadt:
In drei Jahren wird in den acht Klassen der Ganztagsschule keine
Stunde mehr vergehen, in der nicht musiziert, getanzt und gesungen
wird, um das Lernen, die Integration und Gewaltprävention voranzubringen.
Psychischen und physischen Defiziten der Kinder soll zumindest entgegengewirkt
werden. Partner des einzigartigen Unternehmens sind das Mozarteum
Salzburg, die Philharmonie Essen und die Herbartschule unter der
Schirmherrschaft des NRW-Kulturratsvorsitzenden Gerhard Baum. KUNST+KULTUR
begleitet das Projekt publizistisch (siehe K+K 7/8-05 und 1/2-06).
Dritter
Teil der Essen-Reportage: Unterricht in der Herbartschule
Ende April 2006. Foto: Markus Kuchenbuch
Es knirscht in den dritten Klassen der Herbartschule. Peter, russischer
Herkunft, läuft zur Lehrerin Angelika Krycki und beschwert
sich, die anderen hätten gesagt, mit einem Christen spielten
sie nicht. Peter petzt nicht, er ist gekränkt. Peter ist körperlich
ein Winzling gegenüber den anderen, und die anderen sind bis
auf wenige Ausnahmen Muslime. Sie hätten ihn auch „Schweinefleischfresser“
geschimpft, behauptet Peter. Während er sie auf russisch „Esel“
nennt, was sie verstehen, denn das Schimpfwort ist dem Türkischen
verwandt. Deshalb also hat Eles wieder zugelangt. Eles, dem die
Lehrerin noch drei Chancen gibt – „Eles, du musst dich
zusammenreißen!“ –, bevor er umgemeldet werden
soll auf eine Sonderschule. Seine junge Mutter bettelt, eine Mutter
dreier türkischer Kinder, aber sie habe nach zwei Terminen
Eles‘ psychologische Behandlung abgebrochen, bedauert die
Lehrerin.
Seit Ostern herrsche dieses Gepöbel unter den Jungen, seufzt
Angelika K., viele Jungen hätten die Ferien in der Moschee
verbracht. Das Thema wäre virulent, ergänzt eine Kollegin
später im Lehrerzimmer: Sie sei schon gefragt worden, ob sie
an Jesus als Gottes Sohn oder an einen Propheten glaube, und ein
Kind behauptete ernsthaft, dass sie als Christin nicht in den Himmel
käme. Verdutzt habe sie einen Moment lang nicht gewusst, in
welcher Weise sie darauf reagieren sollte: wie auf einen Witz, lachend,
oder erklärend.
Das ist die Welt von Essen-Katernberg. Eine deutsche Welt. Eine
Schule mit 85 bis 90 Prozent Kindern fremder Abstammung, mit oft
mangelnder Sprachfähigkeit und nicht entwickeltem Konzentrationsvermögen,
aufgewachsen in einem Teufelskreis sozialer Verwahrlosung, dem sich
die Lehrer der Herbartschule seit Jahren im Teamteaching bewundernswert
wie die Sisyphuse entgegenstemmen. Eine deutsche Welt, in der sich
vieles verkehrt hat. Es knirscht aber auch aus anderen Gründen
im Projekt „Re-Sonanz&AkzepTanz“ des Salzburger
Mozarteums und der Essener Philharmonie mit der Herbartschule: Noch
ist es fraglich, ob die Aufführung eines Stücks zweimal
so über die Bühne der Philharmonie gehen wird, wie es
die Lehrer aus Salzburg und Essen für den 26. Mai geplant haben.
Es scheint, als hätten sie sich zuviel vorgenommen, denn es
hapert an der methodischen und didaktischen Umsetzung des großen
Plans.
Es hapert keinesfalls an gegenseitiger Begeisterung, an Zuneigung
und gutem Willen: Seit der Philharmonie-Intendant Michael Kaufmann
im Herbst die Kinder ins Konzerthaus eingeladen hat, seit die Künstler
in der nagelneuen Turnhalle vor den begeisterten Familien „Hänsel
und Gretel“ aufführten, sind die Philharmonisten und
die Kinder dicke Freunde, und Michael Kaufmann wird jedes Mal stürmisch
begrüßt.
Ein überwältigendes Glück flutet ebenso den Salzburger
Studenten und den Professoren Klaus Feßmann und Thomas Heuer
entgegen, seit sie erstmals im Herbst und inzwischen sogar für
mehrtägige Unterrichtsphasen in die Herbartschule kommen. Doch
wie die Kinder sind auch die Studenten Lernende. Über elementare
methodische Grundkenntnisse verfügen sie offensichtlich nicht.
Was sie mit den Kindern erarbeiten wollen, ist methodisch-didaktisch
ungenügend durchgeplant. Die Klassenlehrerinnen Barbara Wahl
und Angelika Krycki werden beim Zugucken zunehmend kribbelig. Doch
ihre Ratschläge sind nicht erwünscht, ausgewertet werden
die Stunden nicht mit ihnen. So kommt es dauernd zu Überforderungen
auf beiden Seiten, zu Rangeleien, zum Ausstieg ganzer Schülergruppen
aus dem Unterricht, bis hin zum pädagogischen GAU, wenn sich
die Kinder überhaupt nicht mehr lenken lassen. Diese Einbrüche
gehen aufs Soll des Ausbildungskontos vom Mozarteum, das die Vorbereitung
von Studenten auf die Praxis mit diesem Projekt ja gerade verbessern
will. Die Praxis aber ist kein Laborversuch. Die Praxis in Essen-Katernberg
ist eine extrem konfliktgeladene Wirklichkeit.
Um diese Wirklichkeit sozialer und multikultureller Spannungen
zu überbrücken, haben die Salzburger die schöne Sprache
„Proto-Indo-European“ in den Klassen 3a und 3b wiederbelebt.
Proto-Indo-European soll nach einer ernsthaften Theorie eine gesamteuropäische
Urgrundsprache gewesen sein, aus der sich die Sprachen all unserer
Nachbarn abgeleitet haben. „Gunibagu“ ist so ein Wort
aus dieser Sprache: klingt schön, es klingt lautmalerisch nach
einem abstrakten Gemälde, von dem niemand weiß, was es
bedeutet. Vielleicht: Spiel mit mir? Spiel mit mir: Die Kinder üben
paar-weise lautmalerische Dialoge mit diesem Wort, die sie anschließend
vorführen.
Aber der schöne Klang von „Gunibagu“ ist nur eine
Facette des „Proto-Indo-European“: Besonders die Jungen
brüllen die Silben zu, verbunden mit kämpferischen Posen
und Handgreiflichkeiten. Patricia Galob, eine Studentin, und der
Mentor Markus Kuchenbuch vom Mozarteum versuchen zu steuern: „Spiel
mit mir!“ – was das denn wohl auf Türkisch, Tamilisch
oder Libanesisch heißt? Aufeinander hören: Drei Kinder
sprechen es in ihren Sprachen den anderen vor, eins selbstbewusst,
die beiden anderen ängstlich, auch erst nach vielen Bitten.
Oussan spricht nicht. Niemand in der Schule hat Oussan je sprechen
gehört – nur einmal ein kleines bisschen, ein „A“,
sagt seine Lehrerin Barbara Wahl. Zu Hause soll er angeblich reden,
doch zu Hause muss irgendetwas geschehen sein, dass Oussan in der
Schule nicht spricht. Er ist ein kleiner Kerl, federleicht, so wie
ihn Markus trotz seiner Gegenwehr auf den Arm nimmt.
Auf den Arm, um ihn von den anderen wegzutragen, damit er abseits
mit einem anderen Kind das Wort „Gunibagu“ mit Klanghölzern
buchstabiert. Oussan ist aufmerksam, Oussan ist freundlich, Oussan
schert nie aus, er spricht nur nicht. Was tun? Auch ein Kind für
den Psychologen.