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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 44
55. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Stars in der Manege am Böllenfalltor
Gewagte Drahtseilakte bei den 43. Ferienkursen für Neue
Musik in Darmstadt
Avantgarde muss keine Turnhallen füllen. Täte sie es,
wäre sie keine Avantgarde. Aber es gibt Ausnahmen von dieser
Regel. Bei den Donaueschinger Musiktagen und den Darmstädter
Ferienkursen für Neue Musik, die alle zwei Jahre stattfinden,
den beiden renommiertesten deutschen Institutionen für zeitgenössische
Musik, sind die Turnhallen sehr gut gefüllt, wenn zwischen
klanglicher Schönheit in neuem Gewand und der Verweigerung
von Gewohnheit fließend oder abrupt vermittelt wird. So auch
beim Eröffnungskonzert der mittlerweile 43. Internationalen
Ferienkurse für Neue Musik in der schmucklosen, aber sehr zweckdienlichen
Sporthalle am Böllenfalltor.
Stars
der Neuen Musik: Helmut Lachenmann und Irvine Arditti. Foto:
G. Jockel
Zu Beginn der vor 60 Jahren ins Leben gerufenen Ferienkurse spielte
das Orchester basel sinfonietta unter der Leitung Johannes Kalitzkes
sehr genau abgestuft Werke von Beat Furrer, Adriana Hölszky
und Toshio Hosokawa. Sechzig Jahre Ferienkurse, ein Anlass zum Feiern?
Eher ein Anlass, gemäß der Satzung nach vorne zu blicken.
Und auf das Festivalprogramm: 40 Konzerte an 16 Tagen mit 25 Uraufführungen
und renommierten Ensembles. Doch den geradezu jungbrunnenhaften
Reiz des ehrwürdigen Festivals machen nicht nur die neuen Werke
aus: Neben 250 jungen Teilnehmern aus 53 Ländern sind auch
Interpreten und Komponisten in Darmstadt zu Gast, pilgern als fleißige
Musikbienchen zwischen Kursen, Konzerten und Schlafstätten
hin und her.
Heute, nach Serialismus, Postmoderne und inmitten einer drohenden
Provinzialisierung zeitgenössischen Komponierens wegen manchmal
allzu gefälliger Benutzung standardisierter Kompositions- und
Aufführungssoftware, ist die Situation der Ferienkurse sicher
nicht mehr so eindeutig historiographisch einzuengen. Die seit den
siebziger Jahren alle zwei Jahre stattfindende Großveranstaltung
hat Kursdirektor Solf Schaefer während seiner nunmehr elfjährigen
Amtszeit mit sicherer Hand vom Kopf auf massive Beine gestellt,
die des Darmstädter Lehrmobiliars.
Diesmal auf das der Mornewegschule, Ort der Unterweisungen, unweit
der Orangerie, wo die meisten Konzerte stattfinden: Die Darmstädter
Schule heute, das ist zunächst eine quirlige Sommeruniversität,
wo man, also die Neue-Musik-Branche, sich auch trifft. Auch das
eine Parallele zu Donaueschingen.
Dass die Kurse wieder mit Orchester zu tun haben, ist ebenfalls
Schaefers Verdienst. Lange schon her, dass Hermann Scherchen hier
Schönbergs „Tanz um das Goldene Kalb“ uraufführte.
Seit Schaefers Amtsantritt und mehrfach erfolgreich unterstützt
vom nahen Hessischen Rundfunk, dem Deutschlandfunk und dem Südwestrundfunk
gibt es des Bürgers liebstes Instrument, das Orchester, auch
wieder während der sommerlichen Orchesterferien. Die basel
sinfonietta eröffnete mit Beat Furrers Kontrast im Ähnlichen
abbildenden Komposition „Phaos“ für Orchester sehr
eindrucksvoll mit gedeckten Klangfarben. Der Schweizer Komponist
arbeitet mit kurzen, aneinandergereihten Zeitfenstern. Gehen sie
auf, dann erklingen aus ihnen kurze Floskeln, die sich im tonschwankenden
Gestus sämtlich ähneln, aber eben nicht gleich sind. Das
Ohr wird hier auf Furrers nuancenhafte Veränderungsprozesse
geeicht und nimmt danach jede kleinste Rotation, Spiegelung, Intensitätsabstufung
genau wahr.
Überhaupt war der vom Typ her stillere Furrer einer der Stars
der Ferienkurse. Helmut Lachenmann war der andere. Das nach viel
zu langer Abstinenz endlich wieder in Darmstadt auftretende Ensemble
Modern spielte Lachenmanns im letzten Jahr dem Ensemble auf den
Klangkörper geschriebene „Concertini“ mit solcher
Wucht und Raffinesse, auch in der kleinsten geräuschhaften
Geste, dass man nur so mit den Ohren schlackern konnte ob derart
großer haptischer Energie. Das Klangforum Wien indes interpretierte
Beat Furrers kammermusikalische „Spur“ für Klavier
und Streichquartett wie eine Endlosschleife, deren genaue Tonfolgen
und Ereignisse bei neuerlichem Erklingen wieder vergessen waren,
weil die Zeit verging. Auch hier intonatorisch die reinste Akupunktur
für Gehörgänge. Ohnehin lag die Qualität dieser
gut auch als Ensemblebörse durchgehenden Konzerte mit vielen
europäischen Spitzenensembles, darunter das Ensemble Modern,
das ArdittiQuartett, Trio accanto, Percussion Lugano oder das Ensemble
Ascolta, weit über dem Durchschnitt. Das Ensemble Recherche
etwa bestach durch glasklare Klangbilder erneut mit seiner wunderbaren
Primgeigerin Melise Mellinger in Werken von Michael Reudenbach und
Hans Thomalla, Kranichsteiner Musikpreisträger der letzten
Kurse.
Schaefers Kurskorrekturen griffen aber noch weiter: Komponistenreferate
im Stundentakt, wie noch bis zu seinem Amtsantritt als erst vierter
Kursdirektor in sechzig Jahren üblich – zuvor: Gründer
Wolfgang Steinicke, Pragmatiker Ernst Thomas und Ästhetiker
alter Schule Friedrich Hommel, sind ausführlichen Kolloquien
gewichen. Wer kommt, muss ganz dableiben. Noch nie, so war darum
der Eindruck nach gut zwei Wochen philosophisch heiterer Ferienkurse,
wurde so intensiv die Schulbank gedrückt wie heuer von den
gut 270 Kursteilnehmern aus 53 Ländern. Fragen des Kontrapunkts,
des Tonvorrats, der Konzeption, der Instrumentation und des Ausdrucks,
der auch ein abstrakter sein kann, standen im Vordergrund. Fast
schon zu musikimmanent ging es bei diesen nahezu John-Cage-freien
Tagen zu. Allmorgendlich übervolle Einschreiblisten an den
Klassenzimmern der Interpretations- und vor allem Kompositionsdozenten
Adriana Hölszky, Mark André, Michael Reudenbach, Georges
Aperghis, Toshio Hosokawa, Beat Furrer, Helmut Lachenmann und Dieter
Mack waren die Regel. Kein Wunder bei solchen Kragenweiten. Mack,
1954 in Speyer geboren, war so etwas wie eine Entdeckung bei den
Ferienkursen und passte nur zu gut zum wissenschaftlichen Teil der
Kurse mit dem Titel „Interkulturalität“. Seitdem
er in Indonesien die Musikausbildung reformierte und sein eigenes
Musikdenken auch, lebt er ästhetisch und auch räumlich
zwischen den Welten, pendelt ständig zwischen seiner Lübecker
Professur und dem asiatischen Inselstaat. Mit der vom Ensemble Modern
sehr einfühlsam intonierten „Kammermusik Nr. IV“,
den Tsunami-Opfern gewidmet, wurde seine interkontinentale Verortung
im Wechsel der konzertanten Idiome sehr anschaulich. Mit ihrem fortwährenden
Ringen um zeitgemäße musikalische Formen gipfelten die
Ferienkurse gewissermaßen im Konzert des in Darmstadt seinerzeit
seine Karriere startenden ArdittiQuartetts, das zuvor die Tücken
seines wertvollen Handgepäcks beim Hinflug aus London zu meistern
hatte. Mit den drei epochalen und die Gattung jeweils neu definierenden
Streichquartetten von Helmut Lachenmann in der überfüllten
Orangerie wurde noch einmal deutlich, welche Horizonterweiterung
mit dem Œuvre des Pastorensohns über uns gekommen ist.
Im pfingstlichen, frenetischen Applaus nach gut zwei Stunden für
das streckenweise am Rand des Hör- und Spielbaren musizierenden
Quartett entlud sich die gesamte Konzentration der zweiwöchigen
Ferienkurse und bestätigte, wie Wolfgang Rihm einmal meinte,
dass traditionelle Musikorte, zu denen Darmstadt zweiffellos auch
zählt, durchaus in die Luft gesprengt gehörten: durch
Beifall. Sehr gut!