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nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 5
55. Jahrgang | Oktober
www.beckmesser.de
Die Ballack-Frage
Der Papst in Bayern! Für manche war das ein Alarmruf zum
fluchtartigen Verlassen ihrer Stadt, die auf dem Besuchsprogramm
stand. Andere Verstockte wiederum lasen zur Immunisierung verstärkt
Heiner Müller oder erwärmten sich an Claudia Roths Aufruf
zur schonungslosen Kritik am bösen Glaubensmann. Oder sie versuchten
einfach wegzuschauen. Was freilich nicht so leicht gelingen konnte,
denn so ganz ohne Folgen blieb der Besuch bekanntlich nicht. So
konnte, wer sich dem Medienspektakel nicht verschloss, einige erhellende
Beobachtungen machen.
Etwa die, dass es offenbar Leute gibt, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts
die Wissenschaft den Mehrheitsverhältnissen anpassen, sie wieder
einmal vom Kopf auf die Füße stellen möchten. Das
denken sie sich etwa so: Über die Verwendung von Zitaten in
europäischen Universitäten entscheidet ab sofort der Großmufti
von Kairo, und wer dieses Recht anzweifelt, dem wird der brüllende
Straßenpöbel auf den Hals gehetzt. Wozu gibt es sonst
Freitagsgebet, Email und Internet? Eine moderne Art zu denken, reaktionsschnell,
basisnah und mehrheitsfähig – und wenn man genau überlegt,
eigentlich streng demokratisch, denn jeder hat eine Stimme und darf
mitreden. Auch wenn er den Text gar nicht kennt, um den es geht.
Es soll aber hier nicht um die neuen Formen ideologischer Kriegsführung
gehen, sondern um die banaleren Angelegenheiten unserer eigenen
Zivilisation. Womit wir beim Fernsehen wären. Von einzelnen
Runden mit wirklichen Fachleuten abgesehen, demonstrierte es tagelang,
wie inkompetent es ist, wenn es einmal nicht um Fußball, Politik
und kreischenden Spaß geht. Keine Aufregung, keine Prominenten,
keine gehetzten Statements von führenden Wichtigtuern, sondern
nur Massen von unbekannten Menschen, die gar nicht ins Fernsehen
kommen wollten. Wie bringt man das rüber? Zum Glück gab’s
den bayerischen Ministerpräsidenten, der mit schöner Regelmäßigkeit
jeweils als erster nach vorne schritt, wenn es um die Kommunion
ging. An seinem hochgereckten Kinn konnte man sich irgendwie festhalten,
das war bekannt, da fühlten sich unsere Macher zu Hause.
Vom Horror vacui gepackt, versuchten sie den Papstbesuch nach
den allen Vorgaben ihres Metiers aufzupeppen. Das Motto hieß:
Nur keine Langeweile! Überall waren ihre Kameras postiert,
um möglichst steile Perspektiven einzufangen: im Flugzeug,
auf der Straße, auf dem Kirchturm, neben dem Altar, zwischen
den Betenden. Die verinnerlichte Angst vor der Quote konnte sich
ungehemmt ausleben, indem die Bildregie alle drei Minuten zum nächsten
observing point hinübersprang und den Bildreiz erneuerte.
Die wahre Katastrophe aber waren die Kommentatoren vor Ort: Politikmoderatoren
und Eventreporter, die in eine Situation hineinkatapultiert wurden,
von der sie nur die äußere Form, nicht aber den Inhalt
verstanden. Sie konnten einem leidtun. Als stolze Frontmänner
und -frauen einer säkularisierten Mediengesellschaft, in der
Religion nur noch als dumpfe Privatsache wahrgenommen wird, boten
sie tagelang ein Bild der Hilflosigkeit gegenüber dem Gegenstand,
den sie rüberbringen sollten. Ihre Rolle als alerte Vertreter
der Aufklärung – „Das Licht ist da, wo unsere Kamera
hinguckt“ – lief plötzlich ins Leere. Und die Aufregerthemen
wie Kondom und Homoehe, die sie als aufmerksame Begleiter des Weltgeschehens
so schön aufzusagen wussten, kamen ebenfalls nicht so richtig
an auf einer Wiese mit zweihunderttausend Betenden.
So konzentrierten sich die Medienkünstler darauf, ihrer Standardfrage
„Was haben Sie gefühlt, als der Papst so nahe an Ihnen
vorbeifuhr?“ immer neues Leben einzuhauchen. Es ist die Kabinenfrage
an Ballack, der seinen Elfmeter versenkt hat. Im Zusammenhang mit
dem Glauben gestellt, entlarvt sie die ganze Absurdität des
Unternehmens.
Eine religiöse Zeremonie ist ihrem Wesen nach ein innerer
Vorgang, das Äußere ist für die Katholiken bestenfalls
Symbol, für die Protestanten Dekor. Ihre Wiedergabe im Schaumedium
Fernsehen macht deshalb nur Sinn für denjenigen, der ohnehin
daran glaubt. Für alle andern ist sie ein undurchsichtiges
Ritual mit folkloristischen Zügen. Zu ihnen gehörten offensichtlich
auch die Fernsehreporter. Kein Wunder, dass sie sich wie Analphabeten
vor einem Shakespeare-Text benahmen.
Man stelle sich die Situation vor bei der bürgerlich säkularisierten
Form von religiösem Kult, dem Sinfoniekonzert. Am Ausgang steht
der Fernsehmann und fragt den Besucher: Was haben Sie gefühlt,
als Simon Rattle den Einsatz gab?
Dümmer geht’s nimmer. Aber angesichts der um sich greifenden
Unbedarftheit in den Redaktionen ist zu befürchten, dass dies
das Muster zukünftiger Musikkritik sein könnte.