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nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 43
55. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Wenn die Jugendliebe zur Staatsdoktrin wird
Andrea Lorenzo Scartazzinis Oper „Wut“ in Erfurt
uraufgeführt
Erfurt hat einen frisch errichteten, wunderbar stimmigen Opernbau.
Licht dringt ins Foyer, das Haus steht im Offenen. Es ist ein schöner
Ort für neue Konzepte. Mit der Uraufführung der Oper „Wut“
des 1971 geborenen Schweizer Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini
(Libretto: Christian Martin Fuchs) wagte man nun einen vom Inhaltlichen
bewusst drastisch angelegten Schritt.
Bühnenbilder
von schlagender Kraft: Hieronymus Bosch stand Pate. Foto:
Theater Erfurt
Liebe und Blut siedeln nahe. Operngeschichte ohne dieses Paar ist
nicht denkbar. Wer hier zugreift, setzt auf eine vorab sichere Bank.
Doch sich einfach darauf auszuruhen, empfiehlt sich nicht. Kann
also etwas gelingen und scheitern zugleich? Die Oper „Wut“
bejahte diese Frage.
Man hatte ein wunderbar provokantes Sujet gefunden. Das Portugal
des 14. Jahrhunderts ist Hintergrund, zugleich die Zeit, als das
Mittelalter durch Pest, Geißler, Hungersnöte, undeutbare
Himmelserscheinungen, Kinderkreuzzüge und grausame Judenverfolgungen
in seinen Bastionen und Glaubenswerten zusammenstürzte.
Da ereignete sich Folgendes: Der Thronfolger Pedro ist in Inês
Pires de Castro verliebt, sein Vater Alfons IV., König von
Portugal, akzeptiert diese Liebe nicht. Der Sohn widersetzt sich,
heiratet heimlich die Geliebte und vollzieht die Ehe. Drei Kinder
werden geboren und da die Ehe heilig ist, steht der Sohn nicht mehr
für politisch einträgliche Verbindungen zur Verfügung.
Der Vater Alfons lässt daraufhin die Schwiegertochter durch
zwei gedungene Mörder umbringen. Pedro wird wahnsinnig vor
Schmerz, aber als zwei Jahre nach der Mordtat der Vater stirbt,
besteigt er den Thron. Mit diplomatischem Geschick gelingt es ihm,
dass ihm die geflohenen Mörder überstellt werden. Nach
fürchterlichen Torturen reißt er ihnen das Herz aus dem
Leib. Dann lässt er seine Geliebte Inês, die bereits
fünf Jahre tot ist, ausgraben, bekleiden und schmücken.
Die spanischen Granden müssen ihr huldigen, ihr den Rocksaum
und die Hand küssen. Darauf inszeniert Pedro einen grandiosen
Leichenzug. Mit Lichterpracht wird Inês in die Abtei Alcobaça
verbracht und dort bestattet. Pedros Sarkophag wird auch schon aufgestellt
und der König lässt darauf den Satz „A:E:AFIM DOMUDO“
meißeln. Er ist doppeldeutig, man kann ihn als „Das
ist das Ende der Welt“ oder als „Bis ans Ende der Welt“
lesen.
Das sind Bilder von schlagender Kraft und alle kamen auf die Bühne.
Ein Musiker muss nach ihnen gieren. Und Scartazzini schrieb denn
auch eine Partitur, in der alle Drastik ausgereizt wird, die mit
Windgeräuschen und Löwengebrüll, mit flirrenden Flageolettklängen,
Falsettstimme, irrealen Fernchören oder erdigen Tieflagen eine
mit erstaunlicher Phantasie erfundene, schrundige, ja irrsinnige
Klanglandschaft zeichnet. Es war eine Fundgrube der Differenzierung
für das motivierte philharmonische Orchester Erfurt unter Dorian
Keilhack. Besonders hoch ist dem Komponisten anzurechnen, dass er
dabei nichts überfrachtet, die Musik weiß um ihre Stellung
im theatralen Umfeld, weiß, dass sie sich an gewissen Stellen
zugunsten des Wortes oder der Szene zurückzunehmen hat. Verständlichkeit
des Textes war über weite Strecken Gebot, Scartazzini ließ
Markantes sprechen, exaltierte Stimmführung fand sich nur dort,
wo es, etwa im Lachen, Schreien oder in hysterischen Ausfällen
Text und Szene rechtfertigten (die Sänger, vor allem Richard
Salter als Pedro, Michael Leibundgut als Alfons oder Denis Lakey
als Geräderter, dankten es ihm). Plastik des Zusammenwirkens
war der Lohn, das Musiktheater konnte mit seinen Gelenken spielen.
Die Apokalypse stand hautnah und mit der Dauer von 75 Minuten knapp
geschnitten vor Augen.
Dass auch Regie (Aron Stiehl) und Bühne (Hank Irwin Kittel)
ins Volle greifen konnten, versteht sich von selbst. Die fantastischen
Bilderwelten eines Hieronymus Bosch boten reichlich Background,
das Surreale gab hier der Realität in all ihrer Verworfenheit
genüsslich die Hand.
Warum also muss man auch von ei-nem Misslingen sprechen? Es lag
daran, dass die erzählte Geschichte trotz ihrer blutrünstigen
Dynamik im Grunde nur wenig psychologische Tiefendimension besitzt.
Das Ereignis spricht in seiner fatalen Konsequenz für sich.
Der Titel „Wut“, das nebenbei, greift entschieden zu
kurz, denn nicht eine erbärmliche Wut treibt den wahnsinnigen
Pedro, sondern der Zwang zu gnadenloser Rache. Nicht umsonst gab
man seinem Namen die beiden Zusätze „der Grausame“
und „der Gerechte“. Sein fiebriges Hirn lauerte auf
den Tod des Vaters, auf die furchtbare Vergeltung gegenüber
den Mördern, auf die Demütigung der Granden, die posthum
die Ehe anzuerkennen hatten. Das alles hat die schlagende Direktheit
des Eindimensionalen. Zu deuten gibt es hier wenig. Das aber war
auch den Autoren aufgefallen und so bogen sie das Geschehen um.
Was geschieht mit einem Land, dessen Diktator wahnsinnig wird? So
fragten sie sich mit Blick aufs Allgemeine und aufs Jetzt. Im siebenten
und letzten Bild (danach folgte nur noch ein Epilog über die
Rätselinschrift Pedros) machten sie einen Spreizschritt nach
heute, hin zu einem imaginären Militärdiktator, der aus
seiner gescheiterten Jugendliebe eine Doktrin macht. Wimpelschwingende
Kinder tragen Huldigungen vor, ein gebuckeltes Volk singt die Hymnen
in verordneter Dreiklangs-Faltigkeit. Scartazzini schrieb hierzu
eine Musik in der plastischen Einfalt von Verehrungsges-tik, wie
sie an Hitler, Stalin oder Pinochet gerichtet sein könnte.
Der hohle Triumph triumphiert (das Stück wäre übrigens
in seiner Funktionalität nicht schlecht, Scartazzini kann auch
hier, etwa was Begleitstimmen betrifft, seine kompositorischen Fähigkeiten
nicht verleugnen).
Das aber zeigte das Dilemma dieser Oper. Ohne diesen Einschub wäre
sie ein nacktes Tableau, mit ihm aber verzerrte sie geradezu halsbrecherisch
die Perspektiven. Sinn fürs Heutige wurde gleichsam im Stück
verordnet. Aber keineswegs schlagend, sondern wie mit dem Stemmeisen.
Diktaturen heute, so dumm sie auch scheinen mögen, halten sich
nicht mit den (irgendwo auch gerechten, was ja der Beiname bescheinigt)
Rachefeldzügen eines mittelalterlichen Königs auf. So
also hatte die Oper „Wut“ ihre Rundung nicht gefunden.
Man empfand die Notwendigkeit zur Auflösung des Erzählten,
aber hierbei griff man allzu eilfertig in die Wundertüte des
Allgemeingültigen. Ein Bärendienst für die konzise
komponierte Oper, die gewiss einer Fokussierung, wohl kaum aber
dieser, bedarf. Vielleicht wäre in einer neuen Fassung an eine
triftigere inhaltliche Konzeption (ohne die erzwungene Öffnung
zum Heute) zu denken. Die Musik jedenfalls hielte dieser Weitung
der Sicht stand.