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nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 47
55. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Nach dem Kalten Krieg in der Musik
Zwanzig Jahre „Raritäten der Klaviermusik“ in
Husum
Das Unbehagen am Etablierten treibt manchmal erstaunliche Blüten.
Schon vor Jahrzehnten empfand der Berliner Pianist Peter Froundjian
die meisten Konzertprogramme mit ihrem engen Kanon von „Meisterwerken“
um Bach, Beethoven, Brahms als zutiefst unbefriedigend. Klavierabende
waren Chopin-dominiert; Liszt und Rachmaninow galten lange Zeit
noch als anrüchig, Skrjabin war ein unbekannter Komponist,
und die „Moderne“ reichte gerade mal bis Debussy und
Ravel. Daran mag sich im Laufe der Zeit einiges geändert haben;
reichhaltiger sind die Programme nicht unbedingt geworden, höchstens
anders strukturiert.
So hat das Festival „Raritäten der Klaviermusik“,
das Froundjian als klingende Dokumentation der Vielgestaltigkeit,
der unerschöpflichen Phantasie und mancher Verrücktheit
der Klaviermusik ins Leben rief, auch zwanzig Jahren nach seiner
Gründung noch seine Berechtigung. Eine wachsende Fangemeinde
pilgert alljährlich im August aus allen Himmelsrichtungen nach
Husum, die sich über die neuesten Entdeckungen austauscht,
mit detailkundiger Aufmerksamkeit die Konzerte beobachtet und anschließend
mit den Pianisten heiß diskutiert. Das Husumer Publikum, behaupten
Raritäten-Koryphäen wie der Alkan-Spezialist Marc André
Hamelin oder das renommierte Klavierduo Yaara Tal/Andreas Groethuysen
übereinstimmend, sei das beste der Welt, und auch Newcomerin
Nadejda Vlaeva glaubt, noch nie so leise Zuhörer gehabt zu
haben.
Diese Künstler gehören zu denjenigen meist jüngeren
Pianisten, die sich eher um einen nicht gerade üppig bezahlten
Auftritt in Husum reißen als beim massenwirksamen Schleswig
Holstein Musik Festival um die Ecke, deren Einsatz für das
Vernachlässigte und Unbekannte, Sperrige und Querköpfige
trotz ihrer großen Qualitäten bisher auch einen größeren
Bekanntheitsgrad verhinderte. Die blutjunge Bulgarin Vlaeva etwa,
ein Wunder an Klangdelikatesse und filigraner Präzision, beeindruckte
mit einer zweifellos eklektisch wirkenden und doch in ihrer Suche
eigentümlich berührenden Sonate von Sergej Bortkiewicz,
für dessen erstes Klavierkonzert sich um die 1900er Wende Artur
Nikisch interessierte. Das ganze gedruckte Werk dieses Komponisten
ging verloren, der nach längerem Aufenthalt in Berlin in die
Wirren der Oktoberrevolution geriet, nach der Flucht nach Istanbul
verarmte, von den Sowjets ignoriert und später in Wien als
Russe unbeliebt war. Viele der in Husum zu hörenden Komponisten
saßen in anderer Weise zwischen den Stühlen; ihre Werke
warfen interessante Schlaglichter auf Kriterien unserer Wahrnehmung
– warum ist eine Musik „gut“? – und das
Bedürfnis, alles in Schubladen zu packen. Wer um Himmels willen
etwa kam auf die Idee, einen Nikolai Medtner als „russischen
Brahms“ zu klassifizieren? In rhythmisch rasanter Darstellung
erhielt eines der „Märchen“ des Rachmaninow-Freundes
geradezu einen „Bartók“-touch. Wie sehr die Musikgeschichtsschreibung
vom Chauvinismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts bestimmt war –
und bis heute nachwirkt! – wird hier deutlich.
Dabei interessiert sich Froundjian, der die Programme gemeinsam
mit den Pianisten erstellt, besonders für die europäischen
Randbereiche, die ein deutsch-österreichisches Musikverständnis
sich unterzuordnen suchte. Dessen Auffassung von „musikalischem
Materialfortschritt“ macht der rührigen Festivalleiter
verantwortlich für eine Art „kalten Krieg“ auch
in der Musik, der alle Abweichungen von diesem Königsweg ausgrenzte.
Kriterien der Neuheit und Originalität erstreckten sich auch
auf die Vergangenheit – durch diese Roste fiel alles Unfertige,
Abseitige, strengen Formkriterien nicht Genügende. Die verzweifelten
Versuche, Sinfonien und Sonaten von Schubert oder Brahmssche Sinfonien
auf Beethovensches Maß zurechtzustutzen, sind bekanntestes
Beispiel dafür. Erfahrungen der „Postmoderne“ haben
hier vieles in anderes Licht gesetzt. So ließen sich in Husum
viele Entdeckungen machen, jenseits des Uraufführungsrummels
Neuer Musik Was „neu“ und aufregend wirkt, bestimmt
nicht unbedingt das Entstehungsdatum. Ganz vorn stand hier die Sonate
(1948) von Henri Dutilleux, das erste vom Komponisten für gültig
angesehene Werk, das Cecile Licad als sperrige Martellato-Schlacht
darbot, durchaus mit free-jazz-Anklängen. Da ragte Sofia Gubaidulinas
„Chaconne“ (1962) als Turm von Glockenklängen auf,
dessen imposante Architektur der Usbeke Eldar Nebolsin zwingend
verdeutlichte. Auch ein Frank Bridge hat hier seinen Platz; der
Vorläufer Benjamin Brittens stößt mit seinen „Three
Poems“ (1913/14) durchaus in die Klangwelt Alban Bergs vor
und straft die Abqualifizierung Großbritanniens als „Land
ohne Musik“ Lügen. Marc André Hamelin spielte
dies ebenso klangbewusst, wie er Charles Ives’ „Concord“-Sonata
endlich einmal in erstaunlicher Strukturklarheit, nicht als dem
Hörer um die Ohren geschlagene Klangbrocken, wiedergab.
Diese Zeugnisse einer vergangenen, bis heute inspirierenden Modernität
wurden natürlich wie immer ergänzt durch Kostproben aus
dem „Goldenen Zeitalter“ des Klaviers, die virtuosen
Godowsky- und Fritz-Kreisler-Arrangements, die Exotismen eines Louis
Moreau Gottschalk, die in zahllosen Stilgewändern schillernden
Bach-Adaptionen. Mit eigenen Improvisationen stellten sich Gabriela
Montero, Frederik Meinders und Cyprien Katsaris in eine große
Tradition und erinnerten damit an ebenfalls vergessene Verbindungen
von Komposition und Interpretation.