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nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 47
55. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Neues vom Gewohnheitstier: Auschwitz im Stadttheater
Uraufführung der Oper „Das Frauenorchester von Auschwitz“
von Stefan Heuke am Theater Krefeld/Mönchengladbach
Inwieweit Musik die Kraft hat, sich der Barbarei zu stellen, ist
eine alte Frage. Bisher galt dazu die Übereinkunft: Menschheitsverbrechen
wie die Vernichtung des europäischen Judentums sind nicht kunstfähig.
Wenn es dafür überhaupt eine Musikgestalt geben könne,
sei diese durch das Schönberg-Oratorium „Ein Überlebender
aus Warschau“ markiert. Weiter, so glaubte man, könne
man nicht gehen. Empathie mit den Opfern, das „Eingedenken“
(Walter Benjamin), erzwingen Reduktion der Mittel, Verfremdung,
Abstraktion. Nachdem das Theater Krefeld/Mönchengladbach zur
Spielzeiteröffnung die Stefan Heuke-Oper „Das Frauenorchester
von Auschwitz“ uraufgeführt hat, scheint dieser Konsens
aufgekündigt.
Vorspiel 1: Soviel Aufmerksamkeit war selten. Da wurde in tagelangen
medialen Vorkommentaren, Hintergrundberichten und Expertenbefragungen
ein Theater-Ereignis hochgekocht, das, als es serviert ward, die
hochgesteckten Erwartungen weithin unbefriedigt ließ. Immerhin:
Der ersten Auschwitz-Oper der Musikgeschichte war es gelungen, in
einer großen rheinischen Tageszeitung sogar die Themen Papst
und Gammelfleisch kurzzeitig von Seite eins zu verdrängen.
Ein Tabubruch, der dank musik- und theatersprachlicher Konfektionsware
nicht als solcher gefühlt wurde. Als Tabubrecher fungierte
der Bochumer Komponist Stefan Heuke, der allerdings von absichtlich
herbeigeführten Regelverletzungen nichts wissen wollte. Die
Komposition dieses Stoffs sei ihm, so brachte er es auf eine sympathisch-jungenhafte
Weise auf den Punkt, zur Herzensangelegenheit geworden, seitdem
er das Erinnerungsbuch von Fania Fénelon 1980 zum ersten
Mal gelesen habe. Die instinktive Scheu, die einen vor Grenzverletzungen
zurückschrecken lässt, wie es eine Veroperung des Grauens
nun einmal darstellt, kennt Stefan Heuke nicht. Das posttraumatische
Erschrecken, dem Adorno stellvertretend für mehr als eine Generation
Ausdruck verliehen hatte, indem er der Kunst schlichtweg bestritt,
der Nazi-Perversion gerecht werden, in der Kunstform fassen zu können,
was kein Kopf fassen kann – solcherart Skrupel und Zweifel
sind Stefan Heuke fremd.
Vorspiel 2: Eine zweite Chance, sein Projekt zu überdenken,
trat dem sendungsbewussten Komponisten in Gestalt der Auschwitz-Überlebenden
Anita Lasker-Wallfisch entgegen. Die-se hatte dem Komponisten brieflich
von massiven Bedenken unterrichtet, die sie und andere Davongekommene
hegten. „Ihr Libretto, da es auf dem Buch von Fania basiert,
hat keinerlei Chancen, auch nur annähernd der Realität
zu entsprechen. Die Geschichte ist so komplex, dass jeder Versuch
der Wiedergabe in begrenzter Form, wie es eine Oper ist, unbedingt
scheitern muss.“ Dass Heuke über diesen Wink mit dem
Zaunpfahl, wie er sagt, erschüttert gewesen sei, ist ihm abzunehmen.
Doch auch in diesem Stadium seiner Arbeit wollte er nicht von der
Vorstellung lassen, das Unmögliche möglich zu machen.
Indem er das Gespräch mit der Cellistin des Auschwitz-Birkenau-Orchesters
such-te, hoffte er, deren Autorität für seine Zwecke funktionabel
zu machen, die gröbsten Schnitzer, vor allem die unglückliche
Charakterisierung der Dirigentin Alma Rosé zu korrigieren,
um schließlich mit entwaffnender Offenherzigkeit den Mahn-Brief
der Überlebenden zum Prolog der Oper zu erklären. Ursprünglich
dachte Heuke dabei an eine Schauspielerin, die Anita Lasker-Wallfisch
mimt, wie sie an ihn schreibt. Solches Ansinnen hat Regisseur Jens
Pesel verworfen, um stattdessen das Schreiben auf den Theatervorhang
zu projizieren. So werden – im Namen der Opfer – die
Opfer instrumentalisiert. Ein Vorwurf, dem sich über den Komponisten
hinaus allerdings auch die Regie und Teile der Berichterstattung
stellen müssen. Und dabei woll(t)en alle nur das Beste!
Durchführung: Bevor sich der Vorhang zum grausamen Spiel hebt,
projiziert Pesel ein nachdenklich stimmendes Wort des jüdischen
Propheten Joel auf den verhängten Bühnenkasten. „Älteste“,
„Kinder“ und „Nachkommen“ der Kinder stehen
unter der Pflicht, das Erlebte zu erzählen, das Erzählte
zu erinnern. So beginnt Oper als pädagogisches Projekt. Nach
der Pause, einen halben Massenmord weiter (wovon sich der eine oder
andere Premierenbesucher erst einmal an der Theaterbar stärken
muss), konfrontiert uns die Regie mit dem Wort des death-camp-Überlebenden
Imre Kertesz, wonach es „keine Absurdität gibt, die man
nicht natürlich leben würde“. Wie wahr! Nur, dass
solches Dichter-Wort unfreiwillig den Inszenierungs-Nagel des Mönchengladbacher
Intendanten auf den Kopf trifft: Auschwitz im Stadttheater.
Der latenten Verstocktheit des Komponisten korrespondiert der unbeirrbare
Glaube der Regie, kraft bewährter Theatermittel, selbst einem
nicht-fiktiven Extremstoff mit theatralischen Mitteln sein informativ-aufklärerisches
Potenzial abringen zu können. Und tatsächlich liegt der
ganzen Produktion unbestreitbar eine bemerkenswerte Willensanstrengung
zu Grunde. Spürbar der Versuch, das Bühnengeschehen suggestiv
aufzuladen, um es gleichzeitig durch Klarheit der Symbolsprachen
zu brechen. Eine Rampe, über die die Todgeweihten fortwährend
herüberziehen müssen, teilt das große Orchester
auf der Hinterbühne vom Frauenorchester vorne, das mit Ausnahme
der Konzertmeisterin überwiegend mit Laien besetzt ist. Rechts
steigt in einer Plastiksäule gelber Dampf auf – Anspielung
aufs Gas der NS-Todeslager wie auf deren brennende Krematorien.
Links schaufelt ein Fließband fortwährend Kleider in
den Bühnenraum: Schornstein, Rampe, Fließband, immer
wieder neue Transporte, neue Selektionen, das Stöckchen des
Dr. Mengele, dazu die Klänge der Mädchen-Kapelle, Suppés
„Leichte Kavallerie“ etwa. Das suggestive Arsenal ist
beeindruckend – und reicht doch nicht für die Wegstrecke
von drei Stunden. Zu hoch die Verschleißgeschwindigkeit. Entlockt
uns das Fließband im ersten Moment noch ein wiedererkennendes
„Aha“, so haben wir uns im nächsten Moment bereits
daran gewöhnt, bis wir es erst übersehen und dann vergessen.
So kämpft Pesel verbissen gegen den schleichenden Bedeutungsverlust
seiner Mittel, um sich am Ende unweigerlich von jenem Geschehen
entfernt zu haben, das er uns nahe bringen wollte. Dazu kommt, dass
dieser Inszenierung auch in der Musik kein wirklicher Bündnispartner
erwächst. Heuke füttert das Hinterbühnenorchester,
das das irrwitzige Geschehen vorn zu illustrieren und zu kommentieren
hat mit hysterischen Klängen, die jeder Filmmusik zum Thema
Ehre machten: Schrill die Posaunen-Glissandi, schreiend die Trompeten,
röchelnd die Hörner und im Schlagzeug zuckt und klappert
und knallt es nur so daher. Alles funktional im Erwartungshorizont.
Nur als die Sängerinnen in der Todesfabrik fürs SS-Unterhaltungsbedürfnis
Puccinis Butterfly intonieren (hervorragend: Kerstin Brix als Fania
Fénelon, Isabella Razawi als Berthe) wird für einen
Moment berührend wahr, was die aus London angereiste Anita
Lasker-Wallfisch noch im Vorfeld der Uraufführung so umschrieben
hatte: Musik ist unantastbar. – Doch dann ist das Lied zu
Ende und alle, alle müssen weiter machen, was sie so machen:
Die SS muss selektieren, Alma Rosé instrumentieren und dirigieren
(was Anne Gjevang, im Unterschied zu ihrem Gesang, nicht kann) und
Jens Pesel muss weiter inszenieren – bis nach drei Stunden
das Lager-Theater durch die Alliierten befreit wird und lokalpatriotischer
Premierenjubel der Erschöpfung Platz macht. Soviel Anstrengung,
soviel Einsatz von Mensch und Material (allein der Kleiderberg)
muss belohnt werden. Dass das Schauspiel mit dem „Frauenorchester
von Auschwitz“ an seine Grenzen geraten ist, scheint Pesel
gespürt zu haben, weswegen er eifrig Spruch- und Mahnwörter
einsetzt. Und wenn er ein Transparent hängt, auf dem „Zyklon
B“ zu lesen steht, ist es, als wolle er sagen: Es ist zwar
alles Theater, was wir hier machen, aber doch wirklich. –
Auschwitz im Stadttheater. Ein Paradoxon.
Nachlese: Verstörend nicht das Kunstereignis, eher schon die
Ereignisse drumherum. Dazu zählt nicht zuletzt eine gestanzte
Kommentierung, die für einen blassen Theaterabend, für
ein quälendes Betroffenheitsspektakel seltsam unempfänglich
blieb. Den Vogel abgeschossen, hatte in diesem Fall das tagesthemen-Team,
das im Bericht zur Uraufführung (während dieselbe noch
lief) unbeirrt Abgestandenes weiterreichte. Dass Anita Lasker-Wallfisch
vor sämtlichen laufenden Kameras und offenen Mikrophonen, die
sich ihr boten, den gröbsten Unsinn hatte gerade rücken
wollen, erwies sich als vergebliche Liebesmüh. Von einem „Missbrauch
der Musik“ (eine der meistgebrauchten Versatzstücke in
diesem Zusammenhang) könne, so Lasker-Wallfisch, keine Rede
sein. Oder hätte sie, so die spätere Mitbegründerin
des English Chamber Orchestra mit dem ihr eigenen Sarkasmus, bei
der Ankunft im Lager pikiert ihr Cello weiterreichen und stattdessen
ins Gas gehen sollen?! – Unter den zahlreichen, an diesem
schwülen Premierenabend gesprochenen, projizierten und sonstwie
artikulierten Mahnworten war dieser Hinweis tatsächlich einer,
mit dem man etwas hätte anfangen können. Doch wozu? Namentlich
bei den Bildberichterstattern ging‘s zum einen Ohr rein, zum
anderen hinaus, wusste man doch längst, was hier zu sagen war!
So flimmerte die volkspädagogisch wertvolle tagesthemen-Botschaft
noch am selben Abend über die Mattscheiben der Republik, wonach
uns in dieser Oper ein Kunstereignis begegnet sei, das „unter
die Haut geht“.