[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 30
55. Jahrgang | Oktober
DTKV Bayern
Reiseziel: Litauen „terra incognita“
Die baltischen Staaten bieten eine reichhaltige Kulturlandschaft
Der Beitrag basiert auf den Erfahrungen des Autors bei einer Konzertreise
mit seinem Schulchor und der von seiner Kollegin geleiteten Blockflötengruppe
ins nordlitauische Šiauliai. Für deutsche Chöre,
Orchester, Big Bands und andere Formationen aus dem Bereich Schulen
oder Musikschulen sind die baltischen Staaten auch 15 Jahre nach
dem Ende der Sowjetunion immer noch „terra incognita“,
obwohl sie mittlerweile zur EU und NATO gehören. Dabei lohnen
sie sich durchaus als Ziel – in künstlerischer wie allgemeiner
kultureller Hinsicht. Die Erfahrungen aus Litauen können nach
ersten Beobachtungen auch auf die beiden anderen baltischen Staaten
übertragen werden.
1. Die Musikstile
In baltischen Staaten verbinden sich derzeit das traditionell
hohe gesangliche Niveau und die Pflege von Volksmusik und Volkstanz
mit dem Einsatz elektronischer Instrumente und von Verstärkeranlagen.
Auf den ersten Blick mutet es etwas befremdlich an, wenn als „Chor“
ein Dutzend Sänger, zwei Violinen mit Pickups, drei Frontsängerinnen
mit Mikro und ein Drumset anrücken und der Gesamtklang zum
erheblichen Anteil über Playback geformt wird. Die Erfolge
dieses mittlerweile auch in den unteren Klassen vollzogenen musikpädagogischen
Ansatzes zeigen sich aber in den guten Beiträgen baltischer
Staaten bei Schlager- und Pop-Contests. Hier dümpelt –
beziehungsweise siegelt – Deutschland im Trüben zwischen
Comedy à la Stefan Raab und braver, fader Seichtigkeit für
ältere Hausfrauen.
2. Die Anreise
Ein Knackpunkt jeder Baltikum-Expedition ist die Anreise. Mit
dem Zug ist es ein Ding der Unmöglichkeit – zahlreiches
Umsteigen auch auf Fernbusse oder ein Abstecher durch Weißrussland
drohen. Das Mitnehmen von Instrumenten und sonstigem Equipment wird
zur Qual. Mit dem von hier gemieteten Bus muss Polen durchquert
werden – die Straßen sind lang und teilweise in sehr
schlechtem Zustand. Von Kiel, Rostock oder Saßnitz gehen Fähren,
man ist dann aber dringend auf einen Bus vor Ort angewiesen. Gleiches
gilt bei Flügen. Ab Frankfurt (Lufthansa) oder Kopenhagen (SAS,
Air Baltic) sind die Maschinen voll, da hier gezielt alle Baltikum-Reisenden
gesammelt werden. Günstige Tickets in großen Mengen sind
schon gleich gar nicht erhältlich, direkte Flüge (etwa
mit LatCharter) sind im Aufbau begriffen. Ein Direktflug etwa von
München nach Riga (Air Baltic) landet dort gegen 23 Uhr. Generell
wird man bei Konzertreisen das Problem haben, dass das Verhältnis
von Aufenthalt und Fahrweg ungünstig ist. Es sei denn, man
nutzt die Konzertreise für einen angehängten, durchaus
reizvollen Aufenthalt.
3. Die Kontakte
Balten sind überaus freundliche Menschen, solange man nicht
aus Russland kommt. Hier sind alte Wunden noch nicht vernarbt –
der überaus sparsame Applaus für russische und weißrussische
Kinder bei dem vom Autor besuchten Festival lag keineswegs an deren
Leistungsniveau. Und auch auf der anderen Seite sind Aversionen
erkennbar: Russen und Weißrussen geizten ebenfalls mit Anerkennung,
wenn Gruppen aus Staaten, die früher zur Sowjetunion gehörte,
auftraten. Auf der anderen Seite ist ein Mitreisender, der Russisch
spricht, unabdingbar. Insbesondere, wenn Alltagsgeschäfte zu
erledigen sind. Deutsch und Englisch werden zwar von gebildeten
Schichten – mit denen man unmittelbar organisatorisch zu tun
hat – teils sehr gut beherrscht. Insbesondere die mittlere
bis ältere Generation, die für organisatorische Nebenschauplätze
in Unterkünften oder Läden ebenso benötigt wird,
spricht kaum eine westliche Fremdsprache. Dafür besteht insbesondere
bei Festivals die Option, Gruppen aus anderen Ländern von Finnland
bis Georgien kennen zu lernen.
Balten bieten gerne an, Schülergruppen privat aufzunehmen.
Ein heikles Thema, denn bei Monatseinkommen um 180 Euro müssen
viele Eltern für ihre Gastfreundschaft zuvor darben und sich
das Verwöhnen des Austauschschülers oder auch nur eine
normale Verpflegung vom Mund absparen. Zudem scheint es öfters
vorzukommen, dass man dem Gast den 30 Jahre alten Teppichboden nicht
zuzumuten wagt, wenn der ein meist für die Beherbergung freigemachtes
Zimmer bezieht und hohe Investitionen im Vorfeld tätigt. Gästezimmer
haben Balten in aller Regel nicht – der Gast erhält eines
der Zimmer in eher kleinen Wohnungen, in denen mehrere Generationen
zusammen leben. Jugendhäuser, die häufig zu Universitäten,
Fachhochschulen oder Akademien gehören, sind preiswert (ca.
8 Euro/Nacht) und sauber.
4. Die Preise
Generell fahren Deutsche in den baltischen Staaten finanziell
sehr gut. Die Preise erreichen nur ein Drittel oder ein Viertel
des deutschen Niveaus. Dies erfordert bei gemeinsamen Aktivitäten
Fingerspitzengefühl: Während das Preisniveau bei deutschen
Schülern kaum das Taschengeld angreift, sind zwei Euro für
eine Pizza und eine Cola für eine baltische Durchschnittsfamilie
sehr viel Geld. Die Gefahr, als protzig zu wirken, ist groß.
Auf der anderen Seite muss man bei Einladungen und ähnlichem
einen fairen Ausgleich finden. Es ist baltischen Jugendlichen meist
nicht möglich, während des Zeitraums der anwesenden Gäste
allabendlich mit diesen zu feiern. Diskrete Einladungen, Freigetränke
durch die Leitung und ähnliches sorgen dafür, dass die
Würde nicht beeinträchtigt wird. Das Essen – egal
ob lokale Spezialitäten oder Pizza und Döner – ist
mehr als ausreichend und in der Regel sehr gut. Das Bier schmeckt
gut, allerdings ist der Verkauf offiziell erst ab 21 Jahren erlaubt.
Auch wenn die meisten Gaststätten dies ignorieren und einen
„pro forma-Erwachsenen“ akzeptieren, der ordert, reduziert
dies doch den bei Fahrten mit Jugendlichen allfälligen Alkoholkonsum
– der erwachsene Besteller kann das Nachordern einfach einstellen,
wenn der Alkoholisierungsgrad zu groß zu werden droht.
5. Die Kultur
Alle drei Staaten bieten eine reichhaltige Kultur, die einerseits
auf uralten baltischen Traditionen beruht, andererseits von zahlreichen
Einflüssen aus Nachbarkulturen sowie religiösen Traditionen
(katholisch in Litauen und Lettland, lutheranisch in Estland) kündet.
Sehenswürdigkeiten können jedoch meist schlecht mit öffentlichen
Verkehrsmitteln erreicht werden – Busse sind also vonnöten.