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nmz 2006/10 | Seite 17-18
55. Jahrgang | Oktober
Forum Musikpädagogik
Sperriges lebendig unterrichten
Bach – Bebop – Bredemeyer: eine Vorschau auf den
AfS Kongress 2007
Im Kasseler Kongress-Palais findet vom 27. bis 30. September 2007
der 41. AfS-Bundeskongress für Musikpädagogik statt.
Er wird veranstaltet vom Arbeitskreis für Schulmusik (AfS)
in Kooperation mit der Gesellschaft für Musikpädagogik
(GMP), dem Verband Deutscher Schulmusiker (vds) und der Universität
Kassel.
Musik jenseits der Schülerhörgewohnheit als lebendig
gestaltetes Unterrichtsthema – der nächste AfS-Bundeskongress
wird sich den eher schülerfernen Epochen, Stilen und Genres
widmen. Die pädagogische Beschäftigung mit dieser Musik
– im Kongresstitel exemplarisch veranschaulicht durch drei
stilistisch-historische Etiketten, die im Untertitel so plakativ
wie provokant als „sperrig“ gebrandmarkt werden –
wirft spontan Fragen der folgenden Art auf:
Wieso soll Bach sperrig sein? Was ist überhaupt sperrige Musik?
Für wen ist welche Musik wann sperrig? Wer ist Bredemeyer?
Ist Bebop wirklich „U-Musik“? Warum sollte man Sperriges
in einem schülerorientierten Musikunterricht überhaupt
thematisieren? Wieso beschäftigt sich ausgerechnet der AfS
mit Sperrigem? Muss Sperriges stets sperrig bleiben? Ist Sperrigkeit
ein Ausschlusskriterium für ein Unterrichtsthema oder dessen
Adelung? Sollte nicht jedes Unterrichtsthema angesichts des Bildungsauftrags
der Schule zunächst einmal sperrig sein? Sind sperrige Themen
un-unterrichtbar?
Einige der bunt zusammengewürfelten und widersprüchlichen
Fragen sollen im Folgenden vertieft werden, wobei die in das Kongressthema
einführenden Überlegungen, Behauptungen und Zumutungen
als Einladung an all jene gedacht sind, die den nächsten AfS-Bundeskongress
als Teilnehmer/-in oder Referent/-in mitgestalten möchten,
sich bereits vor September 2007 mit dem Kongressthema zu befassen.
Aus diesem Grund sollen die folgenden Gedankensplitter einerseits
neugierig machen auf den Kongress, den der „Arbeitskreis für
Schulmusik und allgemeine Musikpädagogik“ (AfS) in Kooperation
mit der „Gesellschaft für Musikpädagogik“
(GMP), dem „Verband Deutscher Schulmusiker“ (vds) und
der Universität Kassel konzipiert hat, andererseits sollen
die folgenden Gedanken provozieren, Zustimmung oder Ablehnung hervorrufen,
neuen und/oder alten musikpädagogischen Überlegungen zu
ihrem Recht verhelfen und Vorurteile entkräften.
Wann ist Musik sperrig?
Ob ein Unterrichtsgegenstand sperrig ist oder nicht, hängt
von vielen Faktoren ab: Nicht nur Alter, Schulform und Elternhaus
entscheiden darüber, was sich in einer bestimmten Unterrichtssituation
als „sperrig“ herausstellt, sondern auch (und vor allem!)
die musikalische (Vor-)Bildung, die Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Jugendkultur sowie die allgemeine Toleranzschwelle von
Kindern und Jugendlichen entscheiden über die Sperrigkeit eines
Unterrichtsthemas, einer Gattung oder einer Umgangsweise mit Musik.
Bei manchen Themen erwartet man als Lehrer/-in geradezu, dass sich
diese als sperrig erweisen, bei anderen rechnet man nicht damit
und ist überrascht, wenn eine Klasse plötzlich betont
lustlos wird. Wieder andere Themen erweisen sich völlig unerwartet
als nicht sperrig. Oft verursachen vermeintlich sperrige Themen
auch Ängste im Berufsalltag von Musiklehrern/-innen: Manche
drücken sich vor diesen Themen, andere thematisieren nur Sperriges
und wundern sich, dass kaum jemand ihren Unterricht schätzt.
Jüngere Kollegen/-innen werden häufiger von der Wucht
jugendlicher Ablehnung aus dem Konzept gebracht als alte Hasen,
viele Kollegen/-innen machen eine Epoche, einen Stil oder ein einzelnes
Musikstück im Sinne der Self-Fulfilling-Prophecy erst zum sperrigen
Thema. Und es soll auch jene geben, für die es weder ein sperriges
Unterrichtsthema gibt noch einen Widerspruch zwischen Sperrigkeit
und Schülerorientierung.
Spätestens an dieser Stelle zeigt sich eine Anknüpfung
an den thematischen Schwerpunkt des letzten AfS-Bundeskongresses
(„Schülerorientierung“): Wenn ich einen sperrigen
Unterrichtsgegenstand – wie im Kongress-Untertitel versprochen
– lebendig unterrichten möchte, kann mir das nur in einem
schülerorientierten Musikunterricht gelingen: Um ein Thema,
das sich zunächst oder vermeintlich gegen seine unterrichtliche
Verwendung sperrt, für meine Schüler/ -innen interessant
zu machen (denn das tue ich bestenfalls durch dessen „Ent-sperrung“),
muss ich demnach nicht nur historisch, analytisch und methodisch
mit diesem Thema vertraut sein, sondern benötige auch möglichst
differenzierte und aktuelle Informationen über meine Zielgruppe.
Erst vor diesem Hintergrund (!) sind die detaillierte Kenntnis einer
Thematik und meine eigene Begeisterung(sfähigkeit)
für ein sperriges Thema eine unabdingbare Voraussetzung dafür,
dass der Funke auf meine Schüler/-innen überspringen kann.
Damit erfordern sowohl das lebendige Unterrichten eines sperrigen
Themas als auch die Integration einer sperrigen Musik geradezu einen
schülerorientierten Musikunterricht!
Kollegen/-innen aus wissenschaftstheoretischen Arbeitszusammenhängen
werden an das Kongressthema vermutlich erst einmal die üblichen
anführungszeichengeschwängerten Fragen stellen, die in
der Regel in verschachtelten Überlegungen münden, ob und
wie sich „Sperrigkeit“ unter musikpädagogischem
Aspekt überhaupt definieren lässt. Es wäre interessant
zu erfahren, wie hier „Sperrigkeit“ – vielleicht
aufgespannt im Begriffsfeld zwischen Motivation, Kunstanspruch und
Distanz – definiert würde. Im Schulalltag stehende
Kollegen/-innen werden dagegen meist auf Anhieb verstehen, um was
es beim Kongress 2007 geht: Viele von ihnen erkennen in einer Mischung
aus Erfahrung und Intuition sehr schnell, welches Thema im Musikunterricht
„geht“ und welches nicht. Dieses Erfahrungswissen soll
wiederum durch den Kongress konstruktiv erschüttert werden:
Vieles von dem, was angeblich „nicht geht“, gelangt
manchmal ganz leichtfüßig durch die methodisch-didaktische
Hintertür. Damit sind freilich keineswegs jene fragwürdigen
Hintertürchen gemeint, die Hermann Rauhe treffend mit „Rattenfängermethodik
– vom Pop zur Klassik“ – beschrieben hat. Es geht
vielmehr um die Suche nach Schnittmengen zwischen musikalischen
Phänomenen und der Erfahrungswelt der Kinder und Jugendlichen.
Hier muss unter dem Aspekt der Schülerorientierung Folgendes
gelten: Wenn sich für meine Musikklasse in einer konkreten
Situation keine überzeugenden Anknüpfungspunkte finden
lassen, ist ein Thema, ein Musikstück oder eine musikbezogene
Verhaltensweise für diese Unterrichtssituation nicht geeignet.
Das Thema ist nicht zu entsperren. Ein gewaltsames Beharren auf
einem Thema nach dem Motto „Kunst kann halt wehtun!“
schadet sowohl meinen Schüler/-innen als auch der Kunst. Andererseits
dürfen Themen zwischen Bach und Bredemeyer auch nicht bis zur
Unkenntlichkeit pädagogisiert werden: Durch einen „Johannes-Rap“
wird das Thema „Brahms“ kaum weniger sperrig, denn hier
wird gerade nicht ein spätromantischer Komponist zum Thema,
sondern eine spät-afroamerikanische Stilistik an einem ziemlich
ungeeigneten Gegenstand festgemacht. Eine solche Themenwahl verrät
nicht nur mangelnde stilistische Sicherheit, sondern entlarvt auch
ein völlig falsches Verständnis von Schülerorientierung.
Solche musikpädagogischen Mozartkugeln „gehen“
gar nicht!
Ein Indikator für die Sperrigkeit eines Unterrichtsthemas
ist dessen Distanz zum Schüleralltag: Musikalische Praxen,
die sehr weit vom Leben der Schülerinnen und Schüler entfernt
sind, erweisen sich ebenso schnell als sperrig wie jene Themen,
die zu nahe an der Schülerhörgewohnheit beziehungsweise
am schüler-, vor allem jugendspezifischen Umgang mit Musik
liegen. Bei letzteren besteht die Gefahr, dass vor allem Jugendliche
einen Schutzmechanismus gegenüber unterrichtlicher Beeinflussung
aufbauen, der auch ein augenscheinlich schülernahes Thema sperrig
werden lässt (vgl. Terhag 1989). Allerdings kennen nicht alle
Lehrer/-innen den Schüleralltag immer so gut, um wirklich sicher
sein zu können, wo eine Distanz zu groß und wo sie plötzlich
klein geworden ist. So hätten sicherlich nur wenige gedacht,
dass sich über die Gothic-Szene ein Interesse für gregorianische
Gesänge entwickeln würde!
Warum ein solch sperriges Kongressthema?
Als das Kongressthema und dessen Formulierung in so kontroversen
wie anregenden Diskussionen entwickelt wurde, entstanden immer wieder
Fragen nach der Berechtigung dazu, ein Unterrichtsthema, ein Musikstück
oder gar eine Musikrichtung als sperrig zu bezeichnen und dabei
sogar auf „versöhnliche Anführungsstriche“
zu verzichten: Natürlich ist die Musik Bachs nicht sperrig,
selbstverständlich ist ein Kölner Karnevalsschlager für
einige sperriger als Penderecki und bekannterweise gibt es Kinder
und vor allem Jugendliche, für die alles jenseits der eigenen
Teilkultur sperrig ist: Für diese Zielgruppe hätte es
auch Bach – Beethoven – Beatles heißen können
... Andererseits wissen alle Musik-Fachlehrer/-innen und fachfremd
Unterrichtenden wie eingangs erwähnt sofort, was wir mit dem
Kongressthema im Schilde führen: Es gibt sperrige Unterrichtsthemen,
die im Kongresstitel durch die drei Etiketten „Bach –
Bebop – Bredemeyer“ als historisch-abendländische
Musik („Bach“), schülerferne Bereiche der Populären
Musik („Bebop“) und Neue Musik („Bredemeyer“)
veranschaulicht werden.
Bei der Frage nach der Ursache für diese Sperrigkeit kommt
der kind- oder jugendlichen Hörgewohnheit entscheidende Bedeutung
zu. Vor allem durch die Art, wie, wo und wann Musikrezeption heute
stattfindet, wird vieles sperrig in dem Sinne, dass es sich den
(jugendlichen) Hörer/-innen nicht oder nicht unmittelbar erschließt.
Hier braucht es gar nicht das Abseitige, längst sind wir bei
Bach – Beethoven – Beatles angelangt. Sich verändernde
Rezeptionshaltungen sind jedoch keineswegs Grund zum immer wieder
gerne genährten musikpädagogischen Kulturpessimismus.
Sie sollten vielmehr zu nüchterner Betrachtung führen
(vgl. Heß 2005) oder zur genaueren Beobachtung der ästhetischen
Vielfalt heutiger Jugendkulturen sowie zur Erkenntnis, dass veränderte
Hörgewohnheiten auch zu neuem Musikgenuss führen können:
„Welche ungeheuere Wirkung geht zum Beispiel von Musik im
Walkman aus, wenn wir mit ihr geradezu filmreif (...) unsere Umwelt
inszenieren! Mit einer Sibelius-Sinfonie oder einer Ballade von
Elton John auf den Ohren in der Abenddämmerung in den Frankfurter
Hauptbahnhof einzufahren und das dramatische Hochhaus-Panorama auf
sich wirken zu lassen, verändert nicht nur unsere Gefühlslage,
sondern auch die Wahrnehmung der Musik selbst.“ (Geuen 2003,
S. 7).
Trotz beziehungsweise gerade wegen neuer Rezeptionshaltungen und
-gewohnheiten bleibt ein entscheidendes Kriterium für Sperrigkeit
erstaunlicherweise die Länge eines Musikstücks. Für
viele Kinder und Jugendliche erscheint es geradezu als Zumutung,
sich auf Musik jenseits der Drei-Minuten-Grenze einzulassen. Dieser
„Sperrigkeits-Parameter“ ist fast noch wirksamer als
jene, die zunächst näher zu liegen scheinen, wie: ungewöhnliche
Klanglichkeit, Atonalität, extreme Dichte, Ein-Tönigkeit
und so weiter. Durch ihre schiere Länge sind Oper und Sinfonie
für viele sperriger als Kunstlied und Serenade; auch im engeren
didaktischen Sinne sind lang(atmig)e Werke oft sperriger als kurz(weilig)e.
Die wechselhafte Geschichte der unterrichtlichen Berücksichtigung
von Kunstmusik der letzten 500 Jahre – alltagssprachlich meist
unter „Klassik“ zusammengefasst – beschreibt Frauke
Heß in ihrem Beitrag für den kürzlich erschienenen
Band „Musikdidaktik“ von Werner Jank kurz und knapp
wie folgt: „Abendländische Kunstmusik wurde mit dem Beginn
des 20. Jahrhunderts zum zentralen Gegenstand des Musikunterrichts.
Historisch sind unterschiedliche Phasen erkennbar: zunächst
im Zuge emanzipatorischer Bestrebungen als Unterrichtsinhalt für
alle erkämpft, dann über mehrere Jahrzehnte zum allein
selig machenden, Kultur erhaltenden und zeitlosen Bildungsgehalt
stilisiert, in der Gegenreaktion und im Kontext einer kulturellen
Ausdifferenzierung in den 1970er-Jahren als elitär und anachronistisch
in Frage gestellt und schließlich Hand in Hand mit einer neuerlichen
erziehungswissenschaftlichen Ästhetikdiskussion zum sinnlichen
Antipoden der technisierten Welt erhoben (Heß 2005, S. 201).
Das Problem der heutigen Situation von historischer Kunstmusik besteht
darin, dass sie nach Befunden empirischer Rezeptionsforschungen
(Neuhoff 2006) als eine Musik erscheint, für die sich große
Teile der Bevölkerung nicht weiter interessieren, deren Daseinsrecht
aber auch nicht bestritten wird. Man mag sie nicht besonders, sie
gibt aber auch kein Feindbild ab – während etwa Techno,
Metal und volkstümliche Musik extrem polarisieren. Klassische
Musik ist unbedeutend für den Alltag und das Leben der meisten
Mitglieder unserer Gesellschaft – was im Ergebnis fast noch
problematischer ist als Sperrigkeit und Provokation. Hier erhält
die Musikpädagogik die Aufgabe, durch den Bau von motivationalen
Brücken die klassische Musik aus ihrer Mumifizierung zum „Kulturgut“
zu befreien und die dramatischen Erfahrungspotenziale aufzuschließen,
die in ihr stecken können. In ähnlichen Zusammenhängen
hatte Dieter Lugert bereits im Jahr 1983 die „Klassische Musik
als didaktisches Problem“ (Lugert 1983) ausführlich beschrieben
und ich selbst habe im Bereich der Populären Musik für
sperrige bzw. problemlos zu unterrichtende die Begriffe „Schüler-Musik“
(= eher sperrig) und „Schul-Musik“ (= eher problemlos)
vorgeschlagen, womit deutlich werden soll, dass auch im Bereich
der schülernahen Musik durchaus sperrige und sogar un-unterrichtbare
Themen auszumachen sind (vgl. Terhag 1984 und 1989).
Wer ist Bredemeyer?
Reiner Bredemeyer (1929–1995) gehörte zu der nachdenklich-kritischen
Minderheit zeitgenössischer Komponisten inmitten der offiziellen
DDR-Musikkultur. Neben seiner Tätigkeit als Komponist hat er
sich auch als Theoretiker geäußert und klare Auffassungen
zum Zusammenhang von Musik und Politik vertreten. Er verfügte
über eine recht eigenwillige Aneignung moderner Techniken und
eine eigene Stilistik in der musikalischen Sprache, die im mehrfachen
Sinne sogar im Kontext von Avantgarde als sperrig bezeichnet werden
kann.
Birgit Jank beschrieb das Umfeld des Komponisten bei der Diskussion
um die Titelfindung für den Kongress so anschaulich wie persönlich:
„Wir sind damals zu den Bredemeyer-Uraufführungen in
Berlin regelrecht gepilgert, denn da gab es etwas für die Ohren
und den Kopf. Bredemeyer ist im Osten in bestimmten Szenen sehr
bekannt gewesen, gerade auch wegen der Vielfalt seines Schaffens:
Von der interessanten Neuvertonung der Winterreise über Instrumentalstücke,
die immer auch eine politische Dimension und zugleich hohen künstlerischen
Anspruch hatten, bis hin zu den regelrecht berühmt gewordenen
Bagatellen für B., die als Schola-Platten in allen Schulen
zugänglich waren und in den 1980ern lebendig und nicht ohne
Diskussionen in vielen Schulen unterrichtet wurden.
Sein Opernschaffen für Kinder (z.B. „Der Neinsager“
– in Anlehnung an Brecht/Weills „Ja-Sager“) steht
nicht in der zweifelhaften Tradition langweiliger Schulopern, sondern
in der Tradition der Lehrstückarbeit. Bredemeyer war nicht
parteikonform und wirkte als Komponist nach gegebenen Möglichkeiten
für das mündige Nachdenken und gegen die Dummheit in der
Musik. Auch hier stand er in guter Eisler-Tradition. Er war zudem
ein witziger Unterhalter, der Riesenräume füllen konnte.
Als Komponist am Theater der Freundschaft und später am Deutschen
Theater in Berlin hat er interessante Projekte auch für Kinder
und Jugendliche initiiert.“
Der Name Bredemeyer im Kongresstitel steht auch für das Bemühen
des AfS, die für den Westen immer noch sperrige Musikgeschichte
der DDR ins Bewusstsein zu heben. Hier gibt es nicht nur in der
Musikszene zwischen Karat und Bredemeyer musikalische Bereiche,
die sich der westlichen Rezeption sperren, sondern auch musikpädagogische
Besonderheiten und Errungenschaften, die ihrer Ent-Sperrung harren.
So gab es neben einer praxis-orientierten, einphasigen Musiklehrerausbildung,
aus der heute gerade die berufsfeldorientierten Ausbildungsbestandteile
durch die Einführung neuer Studienstrukturen eine wahre Renaissance
erleben, auch zum Beispiel die neueren Lied- und Rockkulturen, die
in ihrer eigenen Art mit der DDR-Sperrigkeit umzugehen wussten.
Birgit Jank hat dies in einem zweiteiligen Beitrag im AfS-Magazin
ausführlich beschrieben:
„Die neuere Liederlandschaft in der DDR lebte – besonders
in den Traditionen der Liedermacher und Rockmusiker – zu großen
Teilen von sprachlichen Synonymen und poetischen Bildern, die neben
Beschreibungen von Lebenssituationen, des Miteinander-Umgehens und
Hervorhebens humanistischer Werte auch auf Probleme und Unzufriedenheiten
im Alltagsleben hinwiesen. Hieraus entwickelten sich DDR-spezifische
Singe- und Zuhörkulturen, die ihrerseits bis in den Musikunterricht
wirkten.“ (Jank 2001, S. 5).
Abschließend seien aus den hier skizzierten Gedanken einige
Konsequenzen, Anregungen und Forderungen für die musikalische
Bildung abgeleitet, die als Impulse für Vorträge, Workshops
und Gesprächsrunden beim AfS-Bundeskongress 2007 in Kassel
dienen sollen:
Wer Musik jenseits der Schülerhörgewohnheit lebendig
unterrichten möchte, muss nicht nur diese Musik sehr
gut kennen, sondern auch die sich stets und ständig verändernde
musikalische Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen.
Die erfolgreiche Didaktisierung sperriger Musik kann weder
durch eine aufgesetzte Annäherung an jugendkulturelle Welten
gelingen („Mozart-Groove“) noch durch ihre Adelung
als ewig gültige Kunst.
Nur eine lebensweltlich orientierte Verbindung von Kunstvermittlung
und Schülerorientierung ermöglicht ein lebendiges
Unterrichten sperriger Themen.
Die Übergänge zwischen sperrigen und gängigen
Themen sind vielfältig und stufenlos.
Ästhetisches Lernen kann auch heißen, Sperriges
bestehen beziehungsweise überhaupt erst deutlich werden zu
lassen. Soziale Fantasie, Problemlösungsstrategien und musikalisches
Experiment können so in einem geschützten Raum
ausprobiert werden, ohne dass für die Beteiligten Beschädigungen
entstehen.
Auch Lehrende sollten sich um eine fragende, forschende und
neugierige Haltung bemühen, denn auch ihnen erscheinen zuweilen
nicht nur jene musikalischen Praxen sperrig, die Kindern und Jugendlichen
selbstverständlich sind, sondern auch andere Gattungen,
denen sie lieber ausweichen möchten.
Beim Kongress sind folgende thematischen „Säulen“
geplant:
Sperriges vermitteln – Praxiserprobtes aus den Bereichen
– Kunstmusik
– Jazz
– Neue Musik
Sperriges kennenlernen
– musikwissenschaftliche Beiträge
– neue Ansätze der Musiktheorie und -analyse
– ungewöhnliche Schülerarbeiten
– experimentelles Instrumentarium
Sperriges praktisch
– Klassenmusizieren jenseits des Mainstream
– Komponieren und Improvisieren mit Schülerinnen und
Schülern
Sperriges für meine Klasse
– Diagnostik
– Umgang mit Heterogenität
Sperriges reflexiv – in musikpädagogischen Foren
... und natürlich werden die Klassiker der AfS-Kongresse
nicht fehlen – im einen oder anderen Fall aber vielleicht
auch etwas sperriger ausfallen ...
Jürgen Terhag
Literaturhinweise
Geuen, Heinz: „Verschwinden der Wirklichkeit oder Lust
an der Gegenwart? (Musik-)Fernsehen als Chance, Musikunterricht
‚neu zu denken’“ in: AfS-Magazin 16/2003, S.
6–11. Köln 2003
Heß, Frauke: „,Klassik’ und Musikgeschichte
im Unterricht“ in: Jank, Werner (Hg.): Musikdidaktik. Berlin
2005. S. 201–208
Jank, Birgit: „Über sieben Brücken musst Du gehen“
– oder zwei Blicke vorwärts und einer zurück in:
AfS-Magazin 11/2001, S. 3–7 und 12/2001. S. 3–7
Lugert, Wulf-Dieter: Klassische Musik als didaktisches Problem.
Eine Untersuchung zur Rezeption klassischer Musik durch Jugendliche.
Mainz 1983
Neuhoff, Hans: Konzertbesuch und Sozialstruktur, Mainz 2006 (i.Dr.)
Terhag, Jürgen: „Die Un-Unterrichtbarkeit aktueller
Pop- und Rockmusik. Gedankengänge zwischen allen Stühlen“
in: Musik und Bildung, Heft 5/84, S. 345–349; Mainz, Schott-Verlag
1984
ders.: Populäre Musik und Jugendkulturen – Über
die Möglichkeiten und Grenzen der Musikpädagogik; Regensburg
1989