Nicht nur in der Mode scheint Retro angesagt zu sein. Doch während
sich in der Mode der Retro-Look nur als Blick zurück erweist,
in dem Vergangenes – gewissermaßen postmodern –
zu einer Stil-Collage von Altem und Neuem verbunden erscheint, generiert
Retro in der Musikpädagogik makabre Züge. Da wirkt es
zunächst noch relativ harmlos, wenn von der Konrad-Adenauer-Stiftung
(KAS) eine „Bildungsoffensive durch Musikunterricht“
gestartet wird. Darin werden Stoffe fälschlich als Inhalte
des Musikunterrichts bezeichnet, die bereits in jenem Unterricht
unseligen Angedenkens der Vergangenheit den Schülerinnen und
Schülern jede (mögliche) Freude am Musikunterricht ausgetrieben
haben, kanonisch festgezurrt (schön, diese martialische Assoziation
zum Begriff Offensive). Das Moldau-Syndrom: Ein herrliches Stück
Musik, in unzähligen unterrichtlichen Prozessen auf wenige
Spezifika zurechtgestutzt und für jede Lehrerin und jeden Lehrer
nahezu ausgelutscht bis zum Übelwerden, durchzieht jenen Katalog
von Musiken, welche den Kanon der Studie der KAS ausmachen.
Keineswegs harmlos allerdings, wenn im renommierten Verlag Königshausen
& Neumann eine Veröffentlichung erscheint, die folgendermaßen
angekündigt wird: „In den letzten Jahren war ein umfassender
Wertewandel zu verzeichnen, der unter anderem dazu führte,
dass heute neun von zehn Menschen zu Straftätern werden. Das
Buch ,Gewaltmusik – Musikgewalt‘ beweist, dass eine
wesentliche Ursache hierfür im Konsum populärer Musik
liegt, die mit den technischen Möglichkeiten seit etwa der
Mitte des vorigen Jahrhunderts bis dahin ungeahnte Dimensionen der
Aggressivität erreichte, verbunden mit ihrer ständigen
Verfügbarkeit durch die auditiven und audiovisuellen Medien.
... ist ein Schwarzbuch der populären Musik, das deren Verbindungen
mit Hedonismus, enthemmter Sexualität, Drogen und Kriminalität
aller Art aufzeigt.“ Den durch die beiden soeben angeführten
Stimmen aufgespannten Rahmen füllt ein Beitrag in der Juli/August-Ausgabe
dieser Zeitung. Darin sucht Klaus Velten „nach dem verlorenen
Gleichgewicht“ zwischen den „von der Sache her gebotenen
Konstanten (und) den Variablen gesellschaftlicher Einflussnahme“.
Erweitert wird diese Dyade durch den Bezug auf „den zu bildenden
jungen Menschen“ zu einem „pädagogischen Dreieck“.
Seine Gleichgewichtsbemühungen zeigen zwei Schritte, deren
erster eine Art Lamento über das Verfehlen des Bildungsauftrags
des Schulfaches Musik darstellt, wohingegen der zweite Teil eine
Zukunftsperspektive entwirft, „die den Bildungsauftrag des
Schulfaches Musik in den Mittelpunkt rückt“. Das scheint
ja nun ein wirklich ehrenwertes theoretisches Unternehmen zu sein:
aus der Konstatierung eines defizitären Zustandes auf dessen
Behebung zu sinnen.
Doch zwingen Defizitskonstatierungen auch immer dazu, den Ort anzugeben,
von dem aus ein Defizit in Sicht gerät. Allerdings reicht es
nicht, diesen Ort nur zu benennen, sondern man wird ihn auch näher
beschreiben müssen; beides Erfordernisse diskursiver Redlichkeit.
Dem entzieht sich Velten nicht. Er sieht den Bildungsauftrag des
schulischen Musikunterrichts in der „Erziehung einer an der
musikalischen Hochkultur sich orientierenden gesellschaftlichen
Trägerschicht“. Was unter musikalischer Hochkultur zu
begreifen ist, verheimlicht Velten nicht. Es ist die Musik, welche
den Orientierungsrahmen für das Konzept der didaktischen Interpretation
von Musik in den 70er-Jahren hergab/hergibt. Das heißt, es
handelt sich um die Darbietungsmusik „cum grano salis“
der Musik zwischen 1600 und 1900 – mit wenigen vorsichtigen
Blicken in die Musik des 20. Jahrhunderts. (Dass dem Konzept der
didaktischen Interpretation ein Bemühen um die Ausbalancierung
von Objekt- und Subjektseite, mit dem Ziel, dem Vorwurf einer objektlastigen
Kulturvermittlung entgegenzuwirken, von Velten attestiert wird,
ist unbegreiflich. Versuchen doch die Autoren des Konzepts der didaktischen
Interpretation erst seit einiger Zeit, die Kritik gerade eben an
der Objektlastigkeit ihres Konzepts, die ihnen vielfach entgegengehalten
wurde, konstruktiv hin zu einer stärkeren Schülerorientierung
zu nutzen.)
Von der Unmöglichkeit normativer Didaktik
Halten wir unmissverständlich fest: Ein in pädagogischer
Hinsicht normativer, ein in kunsttheoretischer Hinsicht restringierter
(autonomes Kunstwerk) und ein in sozialer Hinsicht exklusiver (d.h.
ausschließender) Begriff von musikalischer Bildung wird zum
Maßstab der Kritik gemacht. Wie lange muss eigentlich noch
darauf verwiesen werden, dass eine normative Didaktik unrealisierbar
ist, erst recht, wenn es sich – wie hier – um eine sehr
simple, vorwissenschaftliche Form normativer Setzung handelt. Diese
ist durch apodiktisch formulierte Anweisungen für den Unterricht,
die dem pädagogischen Hausverstand oder überlieferten
Meinungen entnommen werden, bestimmt. Bei genauerem Hinsehen erweist
sich jeder einzelne Begriff der zuvor genannten Bestimmung als kritikwürdig
und im Rahmen musikpädagogischen Nachdenkens nicht zu halten:
Wer definiert denn eigentlich, was eine gesellschaftliche Trägerschicht
ist? (So, wie ihn Velten in seinen Darlegungen positioniert hat,
muss er die gesamte Schülerschaft meinen.) Was heißt
denn musikalische Hochkultur? Was meint Orientierung an einer musikalischen
Hochkultur? Eine umfassende Auseinandersetzung kann hier verständlicherweise
nicht geführt werden. Nur so viel: Man kann nur resignierend
festhalten, dass relevante Diskussionsstände von Klaus Velten
nicht zur Kenntnis genommen wurden. Man muss nicht Soziologe sein,
um zu sehen, dass es ganz unterschiedliche Trägerschichten
gibt; für den ökonomischen Bereich sind dies ganz andere
Personengruppen als für den Bildungsbereich, für den administrativen
wiederum andere als für den kulturellen (hier in einem umfassenden
Sinne genommen).
Auch ist der Begriff „Hochkultur“ vor dem Hintergrund
der gegenwärtigen kulturtheoretischen Debatte kaum noch verwendungsfähig.
Ist es wirklich legitim, die gesamte ästhetische, politische
und musikpädagogische Diskussion zum Begriff „Kultur“
auszublenden, um dadurch den Begriff der Hochkultur zu einem inhumanen
Instrument sozialer Ausgrenzung machen zu können?
Und was heißt schließlich Orientierung an musikalischer
Hochkultur? Soll nur noch ein eigentümlicher Ausschnitt des
unendlich reichen Repertoires von Musiken gehört werden? Sollen
Eltern ihrem Sohn verbieten, E-Gitarre oder Schlagzeug zu lernen,
und ihn „verdonnern“, sich – wie unsere Kollegin
Grete Wehmeyer vor vielen Jahren einmal formulierte – der
Einzelhaft am Klavier zu beugen?
Ideologie oder Realitätssinn?
Ist es verwunderlich, wenn auf diesem Hintergrund eine das Bild
des Musikunterrichts der vergangenen drei Jahrzehnte deformierende
Geschichte geschrieben wird? „Ideologisch motivierte Einflussmomente“
führten zu einem erweiterten Kulturbegriff, in dem „popularmusikalischen
Ausdrucksformen ... bei der Unterrichtsplanung der gleiche Rang
wie Ausdrucksformen artifizieller Musik zugebilligt“ wurde.
Ist es wirklich ideologisch motiviert zu nennen, wenn musikbezogenes
Lernen und Lehren Entwicklungen zur Kenntnis nimmt, die das musikkulturelle
Leben unserer Gesellschaft zwar entscheidend prägten und prägen,
vom institutionellen Musiklernen in der Schule aber lange ausgeschlossen
waren? Wenn Heranwachsende, wie Velten zu Beginn seiner Ausführungen
betont, auch über das Lernen im Musikunterricht in ihrer Gesellschaft
einen Platz finden sollen, der Musikunterricht aber einen wesentlichen
Teil der gesellschaftlichen Musikpraxis, die Populäre Musik,
aber auch Musiken inzwischen in der Bundesrepublik beheimateter
anderer Kulturen überhaupt nicht oder nur sehr defizitär
in Erscheinung treten lässt?
Nein, es ist wirklich keinem gesellschaftspolitischen Ressentiment
zuzuschreiben, dass popularmusikalische Ausdrucksformen in ihren
gleichfalls artifiziell hoch zu veranschlagenden Exponaten im Musikunterricht
ihren Ort finden beziehungsweise gefunden haben. Das ist jenen Musiklehrerinnen
und Musiklehrern – und in deren Gefolge dann auch der Musikdidaktik
– zu danken, denen der Umgang ihrer Schülerinnen und
Schüler mit Musik unterschiedlichster Form „am Herzen
lag beziehungsweise liegt“. Denn ästhetische Minderwertigkeit
beziehungsweise mangelnde Originalität allen Ausdrucksformen
populärer Musik unterschiedslos zuzuweisen, dürfte kaum
zu rechtfertigen sein. Dass viele dieser Musiken „anders“
sind, anders gehört werden wollen, anderen Strukturgesetzlichkeiten
folgen, zunehmend polymedial präsentiert werden, zudem anders
analysiert werden wollen und teilweise ein anderes Publikum ansprechen
als Produkte jener von Velten favorisierten „musikalischen
Hochkultur“, daran besteht kein Zweifel.
Aber die Andersartigkeit rechtfertigt keineswegs die vielfach vollzogene
Abwertung und Ausgrenzung. Velten macht es sich zu einfach, wenn
er behauptet, dass im Musikunterricht nicht mehr die ästhetische
Sensibilisierung des jungen Menschen durch die Begegnung mit Inhalten
einer autonomen Kunst angestrebt werde, und es ist wie ein Schlag
ins Gesicht der um Musiken unterschiedlichster Couleur bemühten
Musiklehrerinnen und Musiklehrer, wenn er fortfährt: „...
statt dessen wird gefordert, dass Jugendliche sich den Distributionsmechanismen
der Musikindustrie anpassen, indem sie schwerpunktmäßig
popularmusikalische Ausdrucksformen rezipieren.“ Diese simple,
aber demagogisch durchaus wirksame Identifizierung von hoch differenzierter
Auseinandersetzung mit der Populären Musik, wie sie fast durchgängig
im Musikunterricht zu finden ist, mit einer „Anpassungspädagogik“
ist nicht nachzuweisen. Dass die Wirkung bestimmter Musiken aus
dem popularmusikalischen Bereich, insbesondere bei Identifikation
mit deren Interpretin oder Interpreten problematisch sein kann,
ja, bisweilen Drogencharakter annehmen kann, ist keineswegs auszuschließen.
Aber es dürfte völlig daneben gegriffen sein, Musiklehrerinnen
und Musiklehrern unterschiedslos zu unterstellen, sie wollten derartiges
bewirken. Im Übrigen gilt: Man kann sich auch an Schuberts
Klaviersonate in B-Dur, op. Posth. „besoffen“ hören
– es muss ja nicht immer Isoldes Liebestod sein. Nun war bereits
zu Beginn dieser Replik darauf hingewiesen worden, dass Velten nicht
nur Kritik formuliert, sondern auch konstruktiv auf zukünftigen
Musikunterricht und musikdidaktisches Denken einwirken möchte.
Das ist anzuerkennen. Erfolgt doch Kritik immer – explizit
oder implizit – auf dem Hintergrund eines Gegenbildes zum
Kritisierten. Dieses war, zunächst noch formal, als Bildungsauftrag
des Musikunterrichts formuliert worden („Erziehung einer an
der musikalischen Hochkultur sich orientierenden gesellschaftlichen
Trägerschicht“). In der konstruktiven Wendung wird nun
deutlich, auf welche Weise dieser Bildungsauftrag material, und
zwar in drei Dimensionen eingeholt werden soll: 1. Musikpraxis:
Ermöglichung einer aktiven Beteiligung an der Pflege artifizieller
Musik in Chören und Instrumentalensembles; 2. Verständnis:
Bereitstellung von Hilfen, um die im Musiktheater und Konzertsaal
präsentierte Musik verstehen zu können; 3. Vermittlung
von Wertmaßstäben: Diese sollen der Beurteilung musikindustrieller
Produkte dienen.
Übergeordnete Lernziele
Diese drei Dimensionen werden zusammengebunden unter zwei leiten-den
Vorstellungen („übergeordnete Lernziele“): Förderung
einer musikalischen Handlungskompetenz – Förderung einer
musikalischen Urteilskompetenz. Es dürfte nur wenige Musiklehrerinnen
und Musiklehrer sowie Musikdidaktiker geben, die diesen formalen
Zielen nicht zustimmen würden. Allenfalls ist die von Velten
vollzogene Ordnung, zuerst Handlungskompetenz, dann Urteilskompetenz,
diskussionswürdig. Musikalisches Handeln ist wohl nur schwerlich
ohne Urteilsvermögen erwerbbar und umgekehrt.
Das heißt, hier handelt es sich eher um ein Wechselverhältnis,
bei dem die Frage „Was kommt zuerst?“ der berühmten
Frage nach der Priorität von „Henne oder Ei“ entspricht.
Aber: Wie verläuft die Entwicklung des Urteilsvermögens
bei Kindern und Jugendlichen, wenn der Weg dahin, das heißt
musikbezogenes Lernen, als Konditionierung verstanden wird, als
Prozess, in dem „die musikalische Aktion eine Konditionierungshilfe
bietet“?
Eine derartige Vorstellung macht hellhörig, erst recht, wenn
man sich den Anfang von Veltens Darlegungen in Erinnerung ruft.
Dort setzte sich das pädagogische Dreieck aus dem zu vermittelnden
Objekt, den Erwartungen einer Gesellschaft sowie dem „zu bildenden
jungen Menschen“ zusammen. Die gesamte Tradition des Bildungsbegriffes
seit seinem Entstehen gegen Ende des 18. Jahrhunderts bis in die
Gegenwart dagegen lebt – trotz mancher Unterschiedlichkeit
in den Details – von der Vorstellung eines „sich bildenden
Subjekts“. Diese für Bildungsprozesse grundlegende Selbsttätigkeit
und Reflexivität aber verschwindet, wenn „man jemanden
bilden will“. Darin wird das Subjekt des Bildungsprozesses
zu dessen Objekt umfunktioniert.
Wahl- oder Abwahlverhalten
So scheint auch die weitere Ausdifferenzierung der beiden „Lernfelder“
– von dem einen oder anderen kritischen Punkt abgesehen –
zunächst wohl kaum zu grundsätzlich kontroversen Einlassungen
Anlass zu geben. Ein Augenblick des Nachdenkens zeigt aber: Diese
beiden übergreifenden Lernziele könnten genauso gut einen
Unterricht leiten, der ausschließlich die Populäre Musik
im Unterricht zur Geltung brächte. Auch vertrügen sich
die beiden übergreifenden Lernziele ausgezeichnet zum Beispiel
mit einem produktionsdidaktischen Ansatz von Christopher Wallbaum.
Das heißt, sie sind in ihrer Formalität keineswegs spezifisch
für den von Velten vorgetragenen normativen Ansatz. Erst die
von Velten vollzogene Bindung an den normativ gesetzten und hier
kri-tisierten Bildungsauftrag des Musik-unterrichts sowie an die
Verkehrung des Bildungsbegriffes in Verbindung mit einem nicht haltbaren
Lernbegriff mahnt zu höchster Vorsicht: Werden sie von diesem
geleitet und eingelöst über eine entsprechend didaktische
und methodische Strukturierung des Unterrichts, dann dürfte
das dessen sicheres Ende bedeuten. Das allzu bekannte und immer
wieder beklagte Wahlverhalten, genauer Abwahlverhalten, unserer
Schülerinnen und Schüler gegenüber dem Musikunterricht
in der allgemeinbildenden Schule fände durch dessen Fixierung
auf einen kleinen, zudem elitär verstandenen Ausschnitt musikalischer
Praxis eine nachvollziehbare Begründung.