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Ausgabe 2006/10
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nmz 2006/10 | Seite 15-16
55. Jahrgang | Oktober
Forum Musikpädagogik

Makabrer Kanon: Retro hat Konjunktur

Eine Erwiderung von Hermann J. Kaiser auf einen Artikel von Klaus Velten in der Juli/August-Ausgabe der nmz

Nicht nur in der Mode scheint Retro angesagt zu sein. Doch während sich in der Mode der Retro-Look nur als Blick zurück erweist, in dem Vergangenes – gewissermaßen postmodern – zu einer Stil-Collage von Altem und Neuem verbunden erscheint, generiert Retro in der Musikpädagogik makabre Züge. Da wirkt es zunächst noch relativ harmlos, wenn von der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) eine „Bildungsoffensive durch Musikunterricht“ gestartet wird. Darin werden Stoffe fälschlich als Inhalte des Musikunterrichts bezeichnet, die bereits in jenem Unterricht unseligen Angedenkens der Vergangenheit den Schülerinnen und Schülern jede (mögliche) Freude am Musikunterricht ausgetrieben haben, kanonisch festgezurrt (schön, diese martialische Assoziation zum Begriff Offensive). Das Moldau-Syndrom: Ein herrliches Stück Musik, in unzähligen unterrichtlichen Prozessen auf wenige Spezifika zurechtgestutzt und für jede Lehrerin und jeden Lehrer nahezu ausgelutscht bis zum Übelwerden, durchzieht jenen Katalog von Musiken, welche den Kanon der Studie der KAS ausmachen.

Keineswegs harmlos allerdings, wenn im renommierten Verlag Königshausen & Neumann eine Veröffentlichung erscheint, die folgendermaßen angekündigt wird: „In den letzten Jahren war ein umfassender Wertewandel zu verzeichnen, der unter anderem dazu führte, dass heute neun von zehn Menschen zu Straftätern werden. Das Buch ,Gewaltmusik – Musikgewalt‘ beweist, dass eine wesentliche Ursache hierfür im Konsum populärer Musik liegt, die mit den technischen Möglichkeiten seit etwa der Mitte des vorigen Jahrhunderts bis dahin ungeahnte Dimensionen der Aggressivität erreichte, verbunden mit ihrer ständigen Verfügbarkeit durch die auditiven und audiovisuellen Medien. ... ist ein Schwarzbuch der populären Musik, das deren Verbindungen mit Hedonismus, enthemmter Sexualität, Drogen und Kriminalität aller Art aufzeigt.“ Den durch die beiden soeben angeführten Stimmen aufgespannten Rahmen füllt ein Beitrag in der Juli/August-Ausgabe dieser Zeitung. Darin sucht Klaus Velten „nach dem verlorenen Gleichgewicht“ zwischen den „von der Sache her gebotenen Konstanten (und) den Variablen gesellschaftlicher Einflussnahme“. Erweitert wird diese Dyade durch den Bezug auf „den zu bildenden jungen Menschen“ zu einem „pädagogischen Dreieck“. Seine Gleichgewichtsbemühungen zeigen zwei Schritte, deren erster eine Art Lamento über das Verfehlen des Bildungsauftrags des Schulfaches Musik darstellt, wohingegen der zweite Teil eine Zukunftsperspektive entwirft, „die den Bildungsauftrag des Schulfaches Musik in den Mittelpunkt rückt“. Das scheint ja nun ein wirklich ehrenwertes theoretisches Unternehmen zu sein: aus der Konstatierung eines defizitären Zustandes auf dessen Behebung zu sinnen.

Doch zwingen Defizitskonstatierungen auch immer dazu, den Ort anzugeben, von dem aus ein Defizit in Sicht gerät. Allerdings reicht es nicht, diesen Ort nur zu benennen, sondern man wird ihn auch näher beschreiben müssen; beides Erfordernisse diskursiver Redlichkeit. Dem entzieht sich Velten nicht. Er sieht den Bildungsauftrag des schulischen Musikunterrichts in der „Erziehung einer an der musikalischen Hochkultur sich orientierenden gesellschaftlichen Trägerschicht“. Was unter musikalischer Hochkultur zu begreifen ist, verheimlicht Velten nicht. Es ist die Musik, welche den Orientierungsrahmen für das Konzept der didaktischen Interpretation von Musik in den 70er-Jahren hergab/hergibt. Das heißt, es handelt sich um die Darbietungsmusik „cum grano salis“ der Musik zwischen 1600 und 1900 – mit wenigen vorsichtigen Blicken in die Musik des 20. Jahrhunderts. (Dass dem Konzept der didaktischen Interpretation ein Bemühen um die Ausbalancierung von Objekt- und Subjektseite, mit dem Ziel, dem Vorwurf einer objektlastigen Kulturvermittlung entgegenzuwirken, von Velten attestiert wird, ist unbegreiflich. Versuchen doch die Autoren des Konzepts der didaktischen Interpretation erst seit einiger Zeit, die Kritik gerade eben an der Objektlastigkeit ihres Konzepts, die ihnen vielfach entgegengehalten wurde, konstruktiv hin zu einer stärkeren Schülerorientierung zu nutzen.)

Von der Unmöglichkeit normativer Didaktik

Halten wir unmissverständlich fest: Ein in pädagogischer Hinsicht normativer, ein in kunsttheoretischer Hinsicht restringierter (autonomes Kunstwerk) und ein in sozialer Hinsicht exklusiver (d.h. ausschließender) Begriff von musikalischer Bildung wird zum Maßstab der Kritik gemacht. Wie lange muss eigentlich noch darauf verwiesen werden, dass eine normative Didaktik unrealisierbar ist, erst recht, wenn es sich – wie hier – um eine sehr simple, vorwissenschaftliche Form normativer Setzung handelt. Diese ist durch apodiktisch formulierte Anweisungen für den Unterricht, die dem pädagogischen Hausverstand oder überlieferten Meinungen entnommen werden, bestimmt. Bei genauerem Hinsehen erweist sich jeder einzelne Begriff der zuvor genannten Bestimmung als kritikwürdig und im Rahmen musikpädagogischen Nachdenkens nicht zu halten: Wer definiert denn eigentlich, was eine gesellschaftliche Trägerschicht ist? (So, wie ihn Velten in seinen Darlegungen positioniert hat, muss er die gesamte Schülerschaft meinen.) Was heißt denn musikalische Hochkultur? Was meint Orientierung an einer musikalischen Hochkultur? Eine umfassende Auseinandersetzung kann hier verständlicherweise nicht geführt werden. Nur so viel: Man kann nur resignierend festhalten, dass relevante Diskussionsstände von Klaus Velten nicht zur Kenntnis genommen wurden. Man muss nicht Soziologe sein, um zu sehen, dass es ganz unterschiedliche Trägerschichten gibt; für den ökonomischen Bereich sind dies ganz andere Personengruppen als für den Bildungsbereich, für den administrativen wiederum andere als für den kulturellen (hier in einem umfassenden Sinne genommen).

Auch ist der Begriff „Hochkultur“ vor dem Hintergrund der gegenwärtigen kulturtheoretischen Debatte kaum noch verwendungsfähig. Ist es wirklich legitim, die gesamte ästhetische, politische und musikpädagogische Diskussion zum Begriff „Kultur“ auszublenden, um dadurch den Begriff der Hochkultur zu einem inhumanen Instrument sozialer Ausgrenzung machen zu können?

Und was heißt schließlich Orientierung an musikalischer Hochkultur? Soll nur noch ein eigentümlicher Ausschnitt des unendlich reichen Repertoires von Musiken gehört werden? Sollen Eltern ihrem Sohn verbieten, E-Gitarre oder Schlagzeug zu lernen, und ihn „verdonnern“, sich – wie unsere Kollegin Grete Wehmeyer vor vielen Jahren einmal formulierte – der Einzelhaft am Klavier zu beugen?

Ideologie oder Realitätssinn?

Ist es verwunderlich, wenn auf diesem Hintergrund eine das Bild des Musikunterrichts der vergangenen drei Jahrzehnte deformierende Geschichte geschrieben wird? „Ideologisch motivierte Einflussmomente“ führten zu einem erweiterten Kulturbegriff, in dem „popularmusikalischen Ausdrucksformen ... bei der Unterrichtsplanung der gleiche Rang wie Ausdrucksformen artifizieller Musik zugebilligt“ wurde. Ist es wirklich ideologisch motiviert zu nennen, wenn musikbezogenes Lernen und Lehren Entwicklungen zur Kenntnis nimmt, die das musikkulturelle Leben unserer Gesellschaft zwar entscheidend prägten und prägen, vom institutionellen Musiklernen in der Schule aber lange ausgeschlossen waren? Wenn Heranwachsende, wie Velten zu Beginn seiner Ausführungen betont, auch über das Lernen im Musikunterricht in ihrer Gesellschaft einen Platz finden sollen, der Musikunterricht aber einen wesentlichen Teil der gesellschaftlichen Musikpraxis, die Populäre Musik, aber auch Musiken inzwischen in der Bundesrepublik beheimateter anderer Kulturen überhaupt nicht oder nur sehr defizitär in Erscheinung treten lässt?

Nein, es ist wirklich keinem gesellschaftspolitischen Ressentiment zuzuschreiben, dass popularmusikalische Ausdrucksformen in ihren gleichfalls artifiziell hoch zu veranschlagenden Exponaten im Musikunterricht ihren Ort finden beziehungsweise gefunden haben. Das ist jenen Musiklehrerinnen und Musiklehrern – und in deren Gefolge dann auch der Musikdidaktik – zu danken, denen der Umgang ihrer Schülerinnen und Schüler mit Musik unterschiedlichster Form „am Her­zen lag beziehungsweise liegt“. Denn ästhetische Minderwertigkeit beziehungsweise mangelnde Originalität allen Ausdrucksformen populärer Musik unterschiedslos zuzuweisen, dürfte kaum zu rechtfertigen sein. Dass viele dieser Musiken „anders“ sind, anders gehört werden wollen, anderen Strukturgesetzlichkeiten folgen, zunehmend polymedial präsentiert werden, zudem anders analysiert werden wollen und teilweise ein anderes Publikum ansprechen als Produkte jener von Velten favorisierten „musikalischen Hochkultur“, daran besteht kein Zweifel.

Aber die Andersartigkeit rechtfertigt keineswegs die vielfach vollzogene Abwertung und Ausgrenzung. Velten macht es sich zu einfach, wenn er behauptet, dass im Musikunterricht nicht mehr die ästhetische Sensibilisierung des jungen Menschen durch die Begegnung mit Inhalten einer autonomen Kunst angestrebt werde, und es ist wie ein Schlag ins Gesicht der um Musiken unterschiedlichster Couleur bemühten Musiklehrerinnen und Musiklehrer, wenn er fortfährt: „... statt dessen wird gefordert, dass Jugendliche sich den Distributionsmechanismen der Musikindustrie anpassen, indem sie schwerpunktmäßig popularmusikalische Ausdrucksformen rezipieren.“ Diese sim­ple, aber demagogisch durchaus wirksame Identifizierung von hoch differenzierter Auseinandersetzung mit der Populären Musik, wie sie fast durchgängig im Musikunterricht zu finden ist, mit einer „Anpassungspädagogik“ ist nicht nachzuweisen. Dass die Wirkung bestimmter Musiken aus dem popularmusikalischen Bereich, insbesondere bei Identifikation mit deren Interpretin oder Interpreten problematisch sein kann, ja, bisweilen Drogencharakter annehmen kann, ist keineswegs auszuschließen.
Aber es dürfte völlig dane­ben gegriffen sein, Musiklehrerinnen und Musiklehrern unterschiedslos zu unterstellen, sie wollten derartiges bewirken. Im Übrigen gilt: Man kann sich auch an Schuberts Klaviersonate in B-Dur, op. Posth. „besoffen“ hören – es muss ja nicht immer Isoldes Liebestod sein. Nun war bereits zu Beginn dieser Replik darauf hingewiesen worden, dass Velten nicht nur Kritik formuliert, sondern auch konstruktiv auf zukünftigen Musikunterricht und musikdidaktisches Denken einwirken möchte.

Das ist anzuerkennen. Erfolgt doch Kritik immer – explizit oder implizit – auf dem Hintergrund eines Gegenbildes zum Kritisierten. Dieses war, zunächst noch formal, als Bildungsauftrag des Musikunterrichts formuliert worden („Erziehung einer an der musikalischen Hochkultur sich orientierenden gesellschaftlichen Trägerschicht“). In der konstruktiven Wendung wird nun deutlich, auf welche Weise dieser Bildungsauftrag material, und zwar in drei Dimensionen eingeholt werden soll: 1. Musikpraxis: Ermöglichung einer aktiven Beteiligung an der Pflege artifizieller Musik in Chören und Instrumentalensembles; 2. Verständnis: Bereitstellung von Hilfen, um die im Musiktheater und Konzertsaal präsentierte Musik verstehen zu können; 3. Vermittlung von Wertmaßstäben: Diese sollen der Beurteilung musikindustrieller Pro­dukte dienen.

Übergeordnete Lernziele

Diese drei Dimensionen werden zusammengebunden unter zwei leiten-den Vorstellungen („übergeordnete Lernziele“): Förderung einer musikalischen Handlungskompetenz – Förderung einer musikalischen Urteilskompetenz. Es dürfte nur wenige Musiklehrerinnen und Musiklehrer sowie Musikdidaktiker geben, die diesen formalen Zielen nicht zustimmen würden. Allenfalls ist die von Velten vollzogene Ordnung, zuerst Handlungskompetenz, dann Urteilskompetenz, diskussionswürdig. Musikalisches Handeln ist wohl nur schwerlich ohne Urteilsvermögen erwerbbar und umgekehrt.

Das heißt, hier handelt es sich eher um ein Wechselverhältnis, bei dem die Frage „Was kommt zuerst?“ der berühmten Frage nach der Priorität von „Henne oder Ei“ entspricht. Aber: Wie verläuft die Entwicklung des Urteilsvermögens bei Kindern und Jugendlichen, wenn der Weg dahin, das heißt musikbezogenes Lernen, als Konditionierung verstanden wird, als Prozess, in dem „die musikalische Aktion eine Konditionierungshilfe bietet“?

Eine derartige Vorstellung macht hellhörig, erst recht, wenn man sich den Anfang von Veltens Darlegungen in Erinnerung ruft. Dort setzte sich das pädagogische Dreieck aus dem zu vermittelnden Objekt, den Erwartungen einer Gesellschaft sowie dem „zu bildenden jungen Menschen“ zusammen. Die gesamte Tradition des Bildungsbegriffes seit seinem Entstehen gegen Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart dagegen lebt – trotz mancher Unterschiedlichkeit in den Details – von der Vorstellung eines „sich bildenden Subjekts“. Diese für Bildungsprozesse grundlegende Selbsttätigkeit und Reflexivität aber verschwindet, wenn „man jemanden bilden will“. Darin wird das Subjekt des Bildungsprozesses zu dessen Objekt umfunktioniert.

Wahl- oder Abwahlverhalten

So scheint auch die weitere Ausdifferenzierung der beiden „Lernfelder“ – von dem einen oder anderen kritischen Punkt abgesehen – zunächst wohl kaum zu grundsätzlich kontroversen Einlassungen Anlass zu geben. Ein Augenblick des Nachdenkens zeigt aber: Diese beiden übergreifenden Lernziele könnten genauso gut einen Unterricht leiten, der ausschließlich die Populäre Musik im Unterricht zur Geltung brächte. Auch vertrügen sich die beiden übergreifenden Lernziele ausgezeichnet zum Beispiel mit einem produktionsdidaktischen Ansatz von Christopher Wallbaum. Das heißt, sie sind in ihrer Formalität keineswegs spezifisch für den von Velten vorgetragenen normativen Ansatz. Erst die von Velten vollzogene Bindung an den normativ gesetzten und hier kri-tisierten Bildungsauftrag des Musik-unterrichts sowie an die Verkehrung des Bildungsbegriffes in Verbindung mit einem nicht haltbaren Lernbegriff mahnt zu höchster Vorsicht: Werden sie von diesem geleitet und eingelöst über eine entsprechend didaktische und methodische Strukturierung des Unterrichts, dann dürfte das dessen sicheres Ende bedeuten. Das allzu bekannte und immer wieder beklagte Wahlverhalten, genauer Abwahlverhalten, unserer Schülerinnen und Schüler gegenüber dem Musikunterricht in der allgemeinbildenden Schule fände durch dessen Fixierung auf einen kleinen, zudem elitär verstandenen Ausschnitt musikalischer Praxis eine nachvollziehbare Begründung.

Hermann J. Kaiser

Siehe auch: Steilvorlage oder Fehlpass? Misstöne um einen Kanon
Ein Grundsatzpapier der Konrad-Adenauer-Stiftung zur Neuorientierung des Musikunterrichts in der Diskussion

 

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