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nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 14
55. Jahrgang | Oktober
Gegengift
Radikale Verlierer
Der Papst, in dieser Hinsicht ganz Kind der 50er- und 60er-Jahre
zwischen Schelskys „skeptischer Generation“ und dem
wüsten 68er-Experimentieren mit alternativen Lebens- und Gesellschaftsformen,
geißelt noch immer den Relativismus und Nihilismus, der aus
der wirklichen Welt, jedenfalls so, wie sie politisch-medial erscheint,
längst verschwunden ist. Es gibt wieder Sinnversprechen, Werte
und Normen en masse. Sie verpanzern sich fundamentalistisch gegen
Einwände und fühlen sich moralisch nicht nur ermächtigt,
sondern geradezu verpflichtet, das eigene Weltbild durchzusetzen;
wenn es sein muss, auch bellizistisch, also durch krude Gewalt gegen
den „Feind“ samt etwaigen Kollateralschäden bei
Unbeteiligten. Wer das Abendland in der Defensive oder gar am Abgrund
wähnt, der verkennt die Kampfbereitschaft, ja -lust großer
Teile der „westlichen Wertegemeinschaft“, von der gerade
der republikanische Möchtegernpräsident des Jahres 2008
und frühere Mehrheitsführer der neo-konservativen „Revolution“
im Kongress, Newt Gingrich, in einem aufsehenerregenden Interview
mit der Weltpresse Zeugnis ablegte: „Der Dritte Weltkrieg
hat bereits begonnen.“ Und anders als der etwas leichtsinnige
jüdische Premier Ehud Olmert versprach er keinen raschen Sieg,
sondern „Blut, Schweiß und Tränen“, zwanzig
Jahre lang. Aber das anvisierte Ziel ist ihm offenbar jeden Verlust
und Schmerz wert. Es lautet wie schon seit den Zeiten von Bush Senior:
„new world order“.
Wer aber ist „schuld“, wer trägt die Verantwortung
für all das Übel, das da heraufbeschworen wird. Das fragt
sich nicht nur der Christenmensch, der so sozialisiert worden ist,
sondern auch der wendige Intellektuelle, aus dessen Mund der Welt-
oder zumindest Zeit-Geist spricht. Hans Magnus Enzensberger, seit
Jahrzehnten die erste Adresse in derlei Dingen, hat in einem Groß-Essay
zuerst für den „Spiegel“ und dann, in erweiterter
Form, für die edition suhrkamp, diese Frage beantwortet –
und aus ihm spricht der Geist der neuen Epoche des asymmetrischen
Weltbürgerkriegs. Schuld sind keineswegs die Gewinner und ihre
Gier, die in mehrfacher Hinsicht keine Grenzen kennt. Schuld sind
die „radikalen Verlierer“, die nicht damit zurechtkommen,
dass sie beim „großen Geschäft“ auf der Strecke
bleiben. Sie verwandeln sich in „Schreckens Männer“
und rächen sich durch den Terror einer scheinbar unterschiedslosen
Auslöschung an der „schönen neuen Welt“, die
ihnen den Zutritt verweigert und die sie nur als Ressource oder
Abfall wahrnimmt. Besonders unheimlich, ja fast schon gespenstisch
macht diese verletzten Amokläufer, die sich in den guten, starken
Glauben weit weg von allem gedankenblassen Relativismus und Nihilismus
stürzen, dass sie auch den eigenen Tod nicht scheuen.
Das ist nicht „normal“; das ist nicht einmal kriminell,
wie noch die Rede vom „Reich“ beziehungsweise, nach
dem Ende des kommunistischen Imperiums, von der „Achse des
Bösen“ suggerierte, das ist für Enzensberger und
Co. pathologisch. Das politische und militärische Handeln der
anderen wird so zum Symptom einer Krankheit. Und jede Medizin ist
gegen diese Seuche zulässig; moralische Bedenken wären
da fehl am Platz.
Die „Normalität“, die Überzeugung von einem
richtigen Leben, zu dem es auch gehört, dass es, „universalistisch“,
falsche Überzeugungen und Existenzformen nicht duldet, richtet
sich im „war on terrorism“ nicht nur gegen den allgegenwärtigen
äußeren Feind, sondern fordert auch Selbstdisziplin im
eigenen Lager. Der freie Westen verordnet sich schärfere Gesetze
und die möglichst vollständige Kontrolle seiner Bürger
(natürlich nur zu ihrem Schutz). Sogar die Künstler werden
in einem solchen „Klima“ normal; sie sagen es selbst
und wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen es. Vorbei
die Zeiten, in denen sich die Kreativität regellos entfaltete,
mit Vorliebe nachts, wenn die braven Bürger schliefen, und
gern auch unter Mithilfe von Medien und Instanzen, die den Kontrollverlust
befördern, von Drogen aller Art über promisk-„perversen“
Sex oder eine Erotik rückhaltloser Hingabe bis zu einer religiösen
Emphase, die dem gesunden Menschenverstand „transzendent“
ist. Passé und perdu! In creative-writing- oder composing-Kursen
lernt man, dass Kunstproduktion ein Job wie jeder andere ist, am
besten „nine to five“, ein Handwerk, das man erlernen
kann und muss. Extreme Erfahrungen sind da eher hinderlich; das
Internet hilft rascher und bequemer weiter. Ein amerikanisches Institut
hat sogar festgestellt, dass glücklichen Menschen die Kunst
besser von der Hand geht – und man kann vermuten, dass solche
glückliche Kunst von glücklichen Menschen auch sozialverträglicher
ist. Wo Schmerz und Leid mit Vorliebe wegtherapiert werden und abweichendes
Verhalten jeder Art vor allem als Problem der einschlägigen
Behörden erscheint, ist die Radikalität des „poète
maudit“, vor der schon Plato warnte, endgültig fehl am
Platz. Der „radikale Verlierer“ hat, bei Licht gesehen,
nur zwei Optionen: Er muss sich durch eigene Anstrengung (zu der
auch die Anstrengung, „normal“ zu werden, gehört)
in einen Gewinner verwandeln. Oder er wird, im besten Fall, so lange
„sicherheitsverwahrt“ bis er keine Gefahr mehr darstellt.
„Radikale Verlierer“ unter den Künstlern haben
es übrigens derzeit noch vergleichsweise gut. Was sich auf
dem Markt oder „in der Quote“ nicht durchsetzt, fällt
einstweilen „nur“ der Bereinigung der Verlags-, Radio-
oder Konzertprogramme zum Opfer. Hartz IV mag prekär sein,
ist aber immer noch besser als Beirut oder Guantanamo.