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nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 28
55. Jahrgang | Oktober
Jeunesses Musicales Deutschland
Zwischen Leinwand und Lautsprecher
Auch ein Beitrag zum Mozartjahr: Das Multimediaprojekt „Donny
G.“
Die Jeunesses Musicales Deutschland führte 2005/06 mit einer
Förderung des Ministeriums für den ländlichen Raum
Baden-Württemberg ein umfängliches Pilotprojekt zur Nutzung
moderner Medientechnologie für die Musikakademie Schloss Weikersheim
durch. Ein Bestandteil davon bezog sich auf die Nutzungs- und Anwendungsmöglichkeiten
multimedialer Komponenten. Neben einer Konzeption für ein Kreativlabor
in einem noch zu sanierenden Gebäudeteil des Schlosses lieferte
vor allem ein konkretes künstlerisches Projekt das erhoffte
Erfahrungswissen. Die JMD arbeitete hierbei mit dem Zentrum für
Kunst und Medientechnologie ZKM Karlsruhe zusammen. Sechs Stipendien
wurden an experimentierfreudige vorprofessionelle Nachwuchskünstler
vergeben. Das Bachfest Aschaffenburg kaufte die Uraufführung
ein.
Die
Brechungen der Inszenierung entstanden auch durch die Polyphonie
von Live-Performance und medialer Einspielung (hier mit
der Sopranistin Raphaela Stürmer). Foto: Frederik Busch
Da steht eine Sängerin vor einer Treppe – nein: Sie
steht vor einem Bild von einer Treppe, die sich auflöst, neu
formiert, mal mit Geländer, mal ohne. Das Changieren zwischen
Realität und Traumsequenzen, zwischen Gefühlen und deren
physischer Darstellung, zwischen wirklichen Personen und ihrer virtuellen
Dekonstruktion ist eine Konstante der vom amerikanischen Video-Künstler
Gabriel Shalom konzipierten und gefilmten Musiktheater-Produktion
„Donny G.“ (uraufgeführt am 1. August im Rahmen
des Bachfestes Aschaffenburg mit Folgeaufführungen an der Musik-akademie
Schloss Weikersheim und im ZKM in Karlsruhe).
Die tückischen Treppen stehen im Mittelpunkt des dritten Aktes
von „Donny G.“: Der Aufzug in den Himmel und in die
Hölle ist nämlich kaputt. Und Donny G., der Liftboy, der
die Macht hat, die Frauen in die höchste Seligkeit und in die
große Depression zu befördern, ist folglich arbeitslos.
Es bleiben drei Frauen, wie in Mozarts und Da Pontes Dramma giocoso,
die ihre Erinnerungen an Lust und Leid beschwören – dieses
allerdings in höchst komprimierter Form: Eine Geste, ein Blick
– eingerastet und eingefroren – oder eine Silbe genügen,
um dem Publikum von ihrem Zorn und ihren Liebesversprechen zu erzählen.
Die Sängerin Raphaela Stürmer droht, lockt, seufzt, bellt
und zischt hier live und über Lautsprecher, dass es nur so
eine Lust ist. Wie Shalom auf der visuellen Ebene gehen auch die
Komponisten Matthias Ockert, Luis Antunes Pena und Ali Gorji in
ihren Partituren mit der klassischen Vorlage um: Mozarts Musik wird
zunächst analysiert und fragmentiert, dann werden einzelne
ihrer Elemente erneut zusammengefügt. Das Ergebnis scheint
zunächst nicht viel mit Mozart zu tun zu haben. Je stärker
man sich aber dem hintergründigen Spiel von Humor und Schrecken,
von Erstarrung und Fluss, von Ironie und tiefem Gefühl hingibt,
desto mehr glaubt man zu erkennen: Die Skalen der Don Giovanni-Ouvertüre,
die verminderten Akkorde des unheimlichen Gastmahls, Gedankenfetzen
von Don Ottavio und Leporellos Verzweiflungsschreie in der Komtur-Szene.
Egal, ob das Wiedererkennen seine Richtigkeit hat oder nicht: Gefühle
entstehen, eine Ahnung von tieferen Bedeutungsschichten stellt sich
ein und die Phantasie bekommt Flügel. Dass der Flügelschlag
innerhalb der insgesamt sehr spannenden 75 Minuten manchmal leicht
ermattete, mag an leichten Längen im Stück, vielleicht
aber auch an den tropischen Temperaturen im Gewehrhaus gelegen haben
...
„Donny G.“ besteht insgesamt aus einer Ouvertüre
und drei Akten samt Zwischen-Akten und Epilog. Als Vorspiel und
Scharnier in Bilderreigen und Klangfluten dient die große
Komtur-Szene aus Mozarts Vorlage: Sie wird von Ali Gorji zu Fahrstuhlmusik
umfunktioniert, die sich aus plärrenden Lautsprechern über
uns ergießt – hier ist das Originalwerk weitgehend erkennbar,
wenn auch die drei Herren Leporello, der Komtur und Don Giovanni
Sopran singen müssen (die vorproduzierten Tonbänder ebenfalls
mit der fabelhaften Raphaela Stürmer) und das Orchester durch
das einsame Akkordeon Jan Jachmanns ersetzt wird: großartig-grotesk.
Im ersten Akt des Abends, zu Ali Go-rjis Musik „Ich, Dein
Schatten“, führt uns Shalom in abstrakte Bilderwelten,
die den virtuos und beseelt spielenden Akkordeonisten doppeln, spiegeln,
und bis in einzelne Knöpfe zum Kunstwerk werden lassen. Die
Musik schwankt ebenfalls zwischen mächtigen Clustern oder Akkordkaskaden
und fast völliger Stille, einzelnen Klängen, die aus dem
Nichts auftauchen und dort auch wieder verschwinden.
Das Publikum ist nun schon auf die Gegenwart, den Augenblick, das
Kleinst-Ereignis fixiert und wird in der Folge von Luis Antunes
Pena und Shalom auf einen wahren Höllen-Trip geschickt: Verführung
(wobei nicht klar ist: Wer verführt hier eigentlich wen?) wird
zur zwanghaften Geste, Erotik schlägt um in nervöse Ticks
und sogar der Champagner gerinnt im Glas: aus der Zeit hinaus, verhext,
gebannt.
Von Matthias Ockerts gespenstischem Silbenreigen, gesungen von
dreimal Raphaela Stürmer, war oben schon die Rede. In einer
gewaltigen Steigerung erscheinen kleine Terzen, die vielleicht einmal
zum echten Don G. gehört haben, es formen sich Silben aus Arien
von Zerlina, von Don Ottavio, von Donna Elvira, alles mündet
in einen dreifachen, eingefrorenen Schrei. Übernimmt Raphaela
Stürmer nun den Part von Donny G., den die Damen in die Hölle
geschickt haben (weshalb nun der Fahrstuhl nicht funktioniert) –
oder fahren die Damen in die Unterwelt? Lakonischer Abgang: Wir
befinden uns wieder in der Szenerie des Anfangs, die Fahrstuhltüren
öffnen und schließen sich wieder und aus den Lautsprechern
tönt Mozart. Ob jetzt wohl alles noch einmal von vorne beginnt?
Einiges, was man nicht weiß, vieles, was man erlebt hat –
und das ist gut so. Denn die vier Autoren und ihre beiden Interpreten
erklären und philosophieren nicht herum. Sie machen einfach
spannendes, erfrischendes und bewegendes Neues Musiktheater.