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nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 32
55. Jahrgang | Oktober
Jugend musiziert
Wo sich Bach und Korngold Gute Nacht sagen
Die Landesakademie Schlitz war Gastgeber des 42. Kammermusikkurses
”Jugend musiziert“
Ferienzeit in Deutschland – das ist die Zeit zum Faulenzen,
Lesen, Reisen, aber auch zum Üben, Partituren studieren, Noten
schreiben und Konzertieren. Deutschlands Schülerinnen und Schüler
wählen nämlich statt Schwimmbad und Ibiza überraschend
zahlreich musikalische Fortbildungen, wie den Deutschen Kammermusikkurs
”Jugend musiziert“.
Kurse für Kammermusik gibt es natürlich das ganze Jahr
über, die Sommerferien sind jedoch besonders für Nachwuchsmusiker
im Schüleralter die beste Zeit, denn dann ist ein ausgedehnter
Kursbesuch ohne die Einbuße von Schulstunden möglich.
Allein das Deutsche Musikinformationszentrum (MIZ) verzeichnet
auf seiner Website deutschlandweit im Zeitraum von Juni bis September
rund 100 Kammermusikkurse für Instrumentalisten, Vokalisten,
Profis, Anfänger und Fortgeschrittene. In zahlreichen Fällen
finden die Kurse in einer Musikakademie statt. Das hat seinen guten
Grund, denn benötigt werden nicht nur geeignete Räumlichkeiten
für konzentriertes Arbeiten, darüber hinaus erfordern
Kammermusikkurse eine anspruchsvolle Logistik, beginnend beim Notenständer,
bis hin zu seltenem Instrumentarium, einer gut sortierten Notenbibliothek
und der Möglichkeit, die eng bemessene Freizeit in erholsamer
Atmosphäre verbringen zu können.
Der Arbeitskreis der Musikbildungsstätten in Deutschland hat
im Jahr 2005 eine farbige Broschüre herausgegeben, in der die
Ausstattung und baulichen Besonderheiten der 23 Musikakademien in
Wort und (Luft-)Bild beschrieben sind. Die ehrwürdigen Schlösser
und Burgen, in denen die Akademien zum großen Teil untergebracht
sind, bieten mit ihren Parks den erwünschten Erholungswert,
die Innenhöfe, Wandelhallen und Repräsentationssäle
das angemessene Ambiente für festliche Konzertabende.
Ehrwürdiges Schloss mit neuer Aufgabe
Die jüngste und gleichzeitig Hessens erste Musikakademie
wurde im Jahr 2003 im Schloss Hallenburg im Städtchen Schlitz
eingerichtet. Das Schloss liegt in einem weitläufigen Park,
vom Flüsschen Schlitz begrenzt. Bereits im Frühjahr 2001
hatten die Restaurierungs- und Umbauarbeiten begonnen, inzwischen
ist das Schloss komplett als Musikbildungsstätte nutzbar. Aus
dem gegenüberliegenden Ökonomiegebäude ist ein eindrucksvoller
400 Quadratmeter großer Konzertsaal entstanden, der rund 600
Zuhörern Platz bietet.
Noch stapelt sich auf dem platanenbestanden Platz vor der Schlosstür
das Baugerät, die Bauarbeiten für das Bettenhaus sind
noch nicht vollständig abgeschlossen. Der nahende 42. Kammermusikkurs
”Jugend musiziert“ war jedoch für den Hausherren,
den Hessischen Landesmusikrat, Herausforderung und Vergnügen
gleichermaßen, das Bettenhaus seiner Bestimmung zu übergeben.
54 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 13 Bundesländern und
2 Deutschen Auslandsschulen, allesamt Preisträger des Bundeswettbewerbs
”Jugend musiziert“, reisten am 7. August 2006 an und
weihten das Herrenhaus mit der angegliederten ehemaligen Orangerie
ein.
Raum für Werke aus vier Jahrhunderten
Die künstlerische Leitung des 42. Kammermusikkurses lag in
den Händen Hartmut Gerholds, Professor an der German School
of Music Weimar at Kangnam University Yongin in Korea für die
Fächer Flöte und Kammermusik. Dem künstlerischen
Leiter obliegt auch die Auswahl der kammermusikalischen Werke, die
im Laufe des 14-tägigen Kurses bis zur Konzertreife erarbeitet
werden sollen. Den Jugendlichen, die zur Teilnahme am Kammermusikkurs
zugelassen sind, werden die Noten im Vorfeld zum Üben zugeschickt.
34 Werke aus 4 Jahrhunderten bildeten schließlich das musikalische
Gerüst des Kurses, darunter Trios von Johann Christoph Friedrich
Bach, Robert Kahn oder Jacques Ibert, Quartette von Werner Egk oder
Erich Wolfgang Korngold, bis hin zum „Septett militaire“
von Johann Nepomuk Hummel und einem Oktett der Komponistin Dorothée
Hahne, die als Dozentin und „composer in residence“
eingeladen worden war. Die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen
Kompositionen und der Dialog mit ihrem Schöpfer gehört
seit vielen Jahren zur festen Einrichtung des Kammermusikkurses.
Dies ist der „Pro musica viva Maria Strecker-Daelen Stiftung“
zu verdanken, die sich seit Anfang der 90er-Jahre explizit für
die Förderung zeitgenössischer Musik im Rahmen des Kammermusikkurses
”Jugend musiziert“ einsetzt. Die Liste der Uraufführungen
ist lang, genannt seien hier stellvertretend Jörg Widmanns
„Fieberphantasie“ oder Albrecht Gürschings Quintett
„Objet retrouvé“.
Ausgewählt statt angemeldet
Musikerinnen und Musiker, die sich für die Teilnahme am Kammermusikkurs
interessieren, können ihr Interesse zwar bei der Bundesgeschäftsstelle
”Jugend musiziert“ anmelden, zunächst ist die Teilnahme
jedoch den Bundespreisträgerinnen und -preisträgern ”Jugend
musiziert“ vorbehalten, die zu dieser ältesten Fördereinrichtung
des Deutschen Musikrates eingeladen werden. Bestehende Ensembles
werden dabei ebenso berücksichtigt wie einzelne Instrumentalisten.
Die Geschichte des Kammermusikkurses ist auch eine Geschichte der
Ensemblegründungen: Ob man sich außerhalb des dichten
Stundenplans zum gemeinsamen Musizieren zusammen gefunden hatte
oder ein Ensemble durch Dozentenhand entstanden war; immer wieder
beschlossen Musikerinnen und Musiker aus ihrer ad hoc-Gemeinschaft
ein festes Ensemble zu machen.
Zu den Vätern und Müttern des Erfolgs gehören auch
die Dozenten des Kammermusikkurses. Sie sind nicht nur renommierte
und international gefragte Künstlerinnen und Künstler.
Es eint sie auch die pädagogische Behutsamkeit im Umgang mit
Heranwachsenden, deren Ehrgeiz und Sehnsucht es ist, die eigenen
Grenzen auszuloten – nicht nur in musikalischer Hinsicht.
Autorität und Schlaflosigkeit
Bewunderung verdienen die Dozen-ten und Künstlerpersönlichkeiten
des Kursjahres 2006 – Reinhold Wolf, 1. Konzertmeister im
Orchester der Deutschen Oper Berlin, Joachim Greiner, Professor
für Viola und Kammermusik an der Universität der Künste
Berlin, Werner Klemm, Solocellist der Kammersymphonie Berlin und
des Deutschen Kammerorchesters Berlin, Albrecht Holder, Professor
für Fagott an der Musikhochschule Würzburg, Manfred Lindner,
Professor für Klarinette an der Folkwang Musikhochschule Essen
und Eike Wernhard, Professor für Klavier an der Musikhochschule
Frankfurt. Denn sie vermochten die Nachwuchsmusikerinnen und -musiker
zu wahren Höchstleistungen zu motivieren, die die einstudierten
Werke in vier Konzerten, zwei davon öffentlich, zur Aufführung
brachten. Übrigens zum Teil durchaus vor dem Hintergrund chronischer
Schlafverweigerung ihrer Schützlinge, denn nichts war kostbarer
als die Zeit, die man mit so vielen Gleichgesinnten verbrachte.
Hohes künstlerisches Können muss hier Hand in Hand mit
Gelassenheit und natürlicher Autorität gehen, damit am
Ende des Kurses stolze Teilnehmer stehen, die im Bewusstsein, etwas
großes geleistet zu haben, nach Hause fahren. In dem Zusammenhang
und im Rahmen einer Abschlussbesprechung bat Hartmut Gerhold auch
um kritische Beurteilung der Akademieräumlichkeiten: sie wurden
unisono für gut befunden.
Neue Erkenntnisse im Reisegepäck
Viel Lob wurde geäußert, die Organisation betreffend
ebenso wie die Unterbringung in der Landesmusikakademie Schlitz.
Vom Lernerfolg sprachen alle Beteiligten: die Jugendlichen hatten
neue Werke verschiedener Epochen kennen gelernt, sie hatten sich
interessiert und intensiv mit den Werken Dorothée Hahnes
auseinandergesetzt, und damit auch mit elektronischer Musik, elektronischer
Klangerzeugung und akustischen Effekten.
Für sich und das eigene Lernen zogen die Dozenten ebenfalls
eine positive Bilanz und beschrieben drei Aspekte. Erstens die bereits
aus früheren Kursen bekannte Erfahrung, wie sich individuelle
Musikerpersönlichkeiten im Laufe der Kurstage zu einer vertrauensvoll
und effizient arbeitenden Gruppe verwandeln.
Zweitens der Wille, Konsens in der Gruppe zu erreichen. Denn von
den eingangs erwähnten 34 Werken führten eben 4 nicht
zur Aufführungsreife. Dies zu erkennen sei nicht nur Sache
des Dozenten, sondern der Musiker selbst, die zu einem kritischen
Urteil über ihren eigenen künstlerischen Stand kommen
und dabei die Erfahrung der künstlerischen Enttäuschung
machen und verarbeiten sollen.
Drittens sei von den Dozenten nicht nur Literaturkenntnis gefordert,
um die Kursteilnehmer adäquat zu beschäftigen: Gelernt
werden müsse auch das Lehren, die Vermittlung von Musik. So
geht auch der gereifte, erwachsene Dozent mit Lernerfahrung vom
Ort des Kammermusikkurses …