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nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 3-5
55. Jahrgang | Oktober
Magazin
Zehn Thesen und ein Fazit
Der Kanon als Leitkultur
1. Die Moderne bedeutet für den Menschen eine zweifache Herausforderung:
Zum einen stellen sich – aufgrund des ständigen Wandels
und der Tendenzen zur Globalisierung – neue Orientierungsnotwendigkeiten.
Zum anderen reduziert sich die Akzeptanz herkömmlicher Orientierungs-
und Sinnstiftungsangebote.
2. Sinnstiftung und Orientierung ist dabei ebenfalls ein ausufernder
Markt ganz unterschiedlicher „Anbieter“ geworden. Neben
Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Wissenschaften und Weltanschauungsgemeinschaften
gibt es vielfältige kommerzielle und mediale Angebote.
3. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur nicht unverständlich,
sondern sogar notwendig und unvermeidbar, wenn im politischen Bereich
Überlegungen angestellt werden, zu einer akzeptierten normativen
Grundlage des Zusammenlebens zu kommen.
4. Sowohl die Debatte über eine (deutsche oder europäische)
Leitkultur als auch die Vorschläge zu einem verbindlichen „Kanon“
in den Unterrichtsfächern gehen in diese Richtung: Verbindlichkeit
zu schaffen für das Gemeinwesen mit dem Ziel, das „Wir“-Gefühl
zu stärken oder sogar erst herauszuarbeiten.
5. Allerdings: Bei aller Berechtigung des Anliegens, gehen sowohl
die Versuche mit einer Leitkultur als auch mit einem Kanon in die
falsche Richtung (völlig unabhängig davon, wie die jeweilige
inhaltliche Füllung der beiden Begriffe geschieht). Denn:
6. Kulturelle und somit auch normative Grundlagen einer Gesellschaft
sind (zwar durchaus) durch Politik, Medien oder andere gesellschaftliche
Kräfte zu beeinflussen. Jedoch gibt es in unserer pluralen
Gesellschaft eine Vielzahl von Akteuren und Interventionsmöglichkeiten;
es gibt zudem eine Fülle je individueller Rezeptions- und Bearbeitungsformen
solcher Angebote, so dass ein solcher Versuch nicht zeitgemäß
ist (er wird außerdem nicht funktionieren).
7. Angesichts der Pluralität der Gesellschaft und der inzwischen
im Alltag der Menschen angekommenen „Lust auf Freiheit“
werden autoritär vorgetragene Sinnstiftungskonzepte nicht mehr
angenommen: Die Zeiten einer „Sinnstiftung von oben“
sind vorüber.
8. Sinnstiftungsangebote – auch solche, die man glaubt, historisch
begründen zu können – können bestenfalls durch
gesellschaftliche Diskurse und Aushandlungsprozesse die notwendige
Legitimation erhalten.
9. Auch ein „Kanon“ kann – angesichts der über
Jahrhunderte ungelösten Problematik, geeignete Lehrinhalte
zu finden – nur noch dezisionistisch „gesetzt“
werden. Alle Bemühungen, auf nachvollziehbare Weise zu einer
akzeptierten Stoffauswahl zu kommen, sind gescheitert (z. B. enzyklopädischer
Ansatz, Elementarisierung, exemplarisches Prinzip, Wissenschaftsorientierung).
10. Trotzdem kann sowohl der Vorschlag einer Leitkultur als auch
eines Kanons sinnvoll sein: Als Diskursangebot des Absenders, bei
dem an konkreten Inhalten deutlich wird, welche Vorstellung von
Werten, Gemeinschaft, Normen, Lebensformen et cetera vorhanden ist.
Dadurch wird diese Position diskutier- und verhandelbar.
Fazit: Als Diskursangebot ist sowohl die „Leitkultur“
als auch ein „Kanon“ ein Beitrag zu einem notwendigen
gesellschaftlichen Aushandlungsprozess. Jeder dieser Vorschläge
verdient dann auch die Zustimmung beziehungsweise Kritik, die er
provoziert.