[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 12
55. Jahrgang | Oktober
Nachschlag
Liebespaar
Beim Festival „Klangspuren Schwaz“ gab es eine Pilgerwanderung
entlang eines (winzigen) Teils des weit verzweigten Jakobsweges.
Es war eine Tageswanderung mit Stationen in Kirchen oder Kapellen,
die den Pilgern schon immer zur Einkehr dienten. Dort wurde zeitgenössische
Musik in kurzen, halbstündigen Konzerten geboten, den Abschluss
bildete schließlich ein großes Chorkonzert.
Viele Menschen gingen mit, die der Neuen Musik bislang weitgehend
skeptisch gegenüberstanden. Darüber in einem Interview
befragt, äußerte ich (für mich selbst ein wenig
überraschend): „Der aufrichtige, neugierige Mensch heute
und die zeitgenössische Musik sind im Grunde ein Liebespaar,
bei dem jede Seite von der anderen annimmt, sie würde sie nicht
lieben.“ Das ist in der Tat eine fatale Situation, denn es
verhindert den ersten Schritt der Annäherung. Und wirklich
hat man in den letzten Jahrzehnten Barrieren aufgebaut, die auf
die Urteile der Hörer „Die elitäre Neue Musik will
uns nichts mitteilen“ oder des Lagers der Zeitgenossen „Die
stumpf gemachten Menschen wollen uns nicht hören“ hinausliefen.
Das aber sind Positionen der Härte, die, wie auch in vielen
politischen oder ideologischen Begegnungen der Menschen, Kontakt
gleich im Entstehen unterminieren.
Daraus entwickelt sich nicht selten eine Eigendynamik. Jedes Lager,
im Bewusstsein, dass das andere ohnehin nicht zu erreichen sei,
formuliert seine Positionen noch um einige Grade schärfer,
vielleicht zynischer. Der Graben wird noch vertieft. Doch es gibt
die Chance, Vertrauen wieder aufzubauen (die Pilgerwanderung wäre
eines von derzeit glücklicherweise vielen Beispielen). Denn
natürlich sitzen wir fast alle in einem Boot (die Vertreter
rein profitorientierter Interessen, die Umweltvernichtung, Hunger
oder Kriege kalt einkalkulieren sitzen in einem anderen). Da aber
ist es gut und von Nutzen, wenn man sich gegenseitig mit den eigenen
Stärken unterstützt.
Lange verstellten technisch verbrämte Argumente den Blick.
Es waren aber nicht die Dissonanzen, die Geräusche, die strukturellen
Härten, die den neugierigen Hörer abschreckten. Es waren
die Defizite auf der inhaltlichen Seite der Musik. Hören ist
eine komplexe Sache und das Ohr lässt sich gerne auf alles
ein, wenn die Ahnung aufkommt, dass dem Individuum Wesentliches
über seine Existenz erzählt wird. Immer schon tat dies
große Musik (die sich eben nicht im Technischen verspielte)
und baute dadurch die auf einer gewissen Behäbigkeit ruhenden
Ressentiments ab.
Sind die Inhalte klar und gewichtig (also nicht auf kalter formaler
Struktur oder auch einfach auf Entertainment begründet), dann
wächst auch die Bereitschaft, das Mitgeteilte aufzunehmen oder
besser zu vernehmen – die Kühnheit der sprachlichen Mittel
ist dann kein Hindernis, sondern wird als notwendig erkannt und
willkommen geheißen. Die Chancen hierfür wachsen, auf
der Seite der Musikschaffenden wie auf der Seite der Hörer.
Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dem Liebespaar die letzten
Hemmungen zu nehmen.