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nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 42
55. Jahrgang | Oktober
Bücher
Helmut Lotti und die Yellow Lounge – Sprungbrett zur Klassik?
Wie man mit populärer Klassik tieferes Interesse für
die klassische Musik weckt und neue Konsumwünsche befriedigt
Polaschegg, Nina: Populäre Klassik – Klassik populär.
Hörerstrukturen und Verbreitungsmedien im Wandel. Böhlau,
Köln 2005, 272 S., 34,90 €,
ISBN 3-412-26005-3
Was haben der Walzergeiger André Rieu, der „Schmuse-Tenor“
Helmut Lotti und der britische Punkgeiger Nigel Kennedy gemeinsam?
Sie sind Vertreter der populären Klassik, also jener Musik,
die Werke des klassischen Repertoires als Grundlage für populäre
Interpretationen und Bearbeitungen verwendet. Kennzeichen sind eine
einfache Dur-Moll-Harmonik, sangbare Melodien, einfache Rhythmen
und oftmals eine harmonische, melodische und klangfarbliche Glättung
der Ausgangsmusik.
Der anhaltende Boom der populären Klassik in den Massenmedien
und der Tonträgerbranche seit den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts
ist für Nina Polaschegg Anlass zu dieser Publikation. Die populäre
Klassik interessiert sie unter zwei Gesichtspunkten. Im ersten Teil
untersucht sie aus musiksoziologischer Sicht, welche Personen populäre
Klassik hören, welche Musikpräferenzen sie darüber
hinaus haben und ob es Grenzverwischungen zwischen Hoch- und Popularkultur
gibt. Die theoretische Grundlage dafür liefert die von Gerhard
Schulze in der „Erlebnisgesellschaft“ (1997) aufgestellte
Typologie von fünf Milieus in Deutschland, die nach Alter,
Bildung und Lebensstil unterschieden werden können. Die Autorin
nimmt an, dass vor allem die Milieus mit mittlerer (und niedrigerer)
Bildung bei diesen Konzerten zu finden sein müssten, da diese
laut Schulze Elemente des Hochkultur- und des Trivialschemas verbinden
(Streben nach Harmonie, Gemütlichkeit, Wiederholung, Sicherheit).
Als Untersuchungsmethode wählte Polaschegg leitfadenorientierte
Interviews und befragte insgesamt 16 Besucher der Konzerte von André
Rieu, Helmut Lotti und Nigel Kennedy jeweils nach dem Konzert in
ihrer häuslichen Umgebung. Auch wenn mit dieser qualitativen
Untersuchungsmethode keine repräsentativen Ergebnisse möglich
sind, beschreibt Polaschegg Tendenzen und Idealtypen der Rezep-tion
populärer Klassik. Entsprechend ihrer Annahme zeigt sich, dass
mit Ausnahme des Niveaumilieus (ältere Personen mit hoher Bildung
und Affinität zur Hochkultur) alle anderen Milieus unter den
Besuchern der Konzerte populärer Klassik zu finden sind. Weitere
Erkenntnisse liefert die Typologie kaum. Insgesamt benennt sie drei
wenig trennscharfe Hörertypen, die sich durch ihr Verhältnis
zur klassischen Musik und durch ihre Zuordnung der populären
Klassik zur U- oder E-Musik unterscheiden.
Im zweiten Teil der Arbeit beschreibt Polaschegg die Popularisierungsversuche
von Klassik durch Klassik Radio und CD-Serien wie „(Harald
Schmidt) trifft (Bach)“, „Yellow Lounge“ oder
„Klassik für schöne Stunden“, die klassische
Musik durch die Auswahl bekannter Werke von Barock bis Romantik
und eine populäre Vermarktung massentauglich machen.
Die wichtigste Aussage dieser Arbeit, die leider in ihren Implikationen
nicht weiter vertieft wird, ist die Erkenntnis, dass über eine
Adaption von Klassik in populäre Musik kein tieferes Interesse
für klassische Musik geweckt wird. Der Zugang zu klassischer
Musik erfolgt vielmehr meist in der Kindheit über aktives Musizieren
im Elternhaus oder über eine Bezugsperson.
Die Hörer der populären Klassik haben sogar das Gefühl,
etwas Besseres zu sein, indem sie sich durch das Hören von
vermeintlicher „Klassik“ von anderen abgrenzen können.
Und damit hätte klassische Musik als Distinktionsmerkmal doch
weiterhin eine Bedeutung.