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nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 37
55. Jahrgang | Oktober
Rezensionen-CD
Friedhelm Döhls skeptischer Kompositionsansatz
Auf Tonträgern nachgehört – ein Gruß zum
siebzigsten Geburtstag des Komponisten
Die Neue Musik des 20. Jahrhunderts, vor allem die nach 1945 entstandene,
hat ins allgemeine Repertoire des heutigen Opern- und Konzertlebens
keinen Eingang gefunden. Außerdem ist seltsam zu beobachten,
dass heute aktive Komponisten in gewissen geografischen Gegenden
unterschiedlich beachtet, oft auch komplett übergangen werden.
Dieser Befund ergibt sich aufgrund bestimmter rezeptorischer Verhaltensmaßnahmen
unserer Gesellschaft. Immerhin lässt er keine Rückschlüsse
auf die Qualität der Musikwerke im Einzelnen zu.
Liederzyklen
mit Dietrich Fischer-Dieskau, Aribert Reimann, Eva Csapó,
Friedhelm Döhl und Mario Venzago. Abb.: Friedhelm Döhl
Edition/Dreyer.Gaido
Friedhelm Döhl, der am 7. Juli 2006 Siebzigjährige, gehört
zu den von diesem Rezeptions-Defizit betroffenen Komponisten. Da
der aktive Musikbetrieb zu wenig auf diese Situation reagiert, ist
die Funktion der Tonträger um so wichtiger geworden. Sie verbreiten
Musik von Komponisten wie Döhl, wenn auch oftmals nur auf Zeit:
Platten und CDs mit geringerer Außenwirkung pflegen nach bestimmten
Laufzeiten aus dem diskographischen Repertoire wieder gestrichen
zu werden. Eine konstante Verlässlichkeit der Verbreitungspraxis
ist also auch bei diesem Medium nicht gegeben, wenngleich ein grundsätzlicher
Vorteil für sogenannte moderne Komponisten existiert.
Auf wissenschaftliche Nachschlagewerke kann man in der Beziehung
auch nicht mehr durchgehend bauen, wie der Fall Döhl beweist.
Aus einem gut beleumundeten deutschsprachigen Komponisten-Lexikon
von 1992 wurden in dessen zweiter Auflage 2003 etwa dreißig
Einträge eliminiert (was der Herausgeber in seinem Vorwort
zur zweiten Auflage verschweigt), und Döhl gehört zu den
hier Aussortierten.
Immerhin ist er andernorts repräsentativ berücksichtigt,
was den speziellen Fall nicht löst. Geht es doch um die Revision
einer Auswahlpraxis zuungunsten Döhls und anderer betroffener
Komponisten: 1992 erwähnt, schienen sie elf Jahre später
keiner Beachtung mehr wert. Hatte man sich vorher in ihnen geirrt;
komponieren sie mittlerweile schlechter; sind sie und ihre Arbeiten
überholt (was immer das meint)? Oder hat man aus der Tatsache,
dass ihre Musik in Deutschland nicht flächendeckend verbreitet
wird, Konsequenzen, allerdings die falschen, gezogen?
Nicht jeder Komponist hat in solcher Situation das Glück,
dass der Tonträger für ihn eintritt, und sei es auf Zeit.
Ars musici hat 2000 Döhls Symphonie für großes Orchester
(Mitschnitt der Lübecker Uraufführung von 1998) veröffentlicht.
Und 2003 folgte das Label Dreyer.Gaido (ausgeliefert von KlassikCenter
Kassel) mit einer Friedhelm-Döhl-Edition, die inzwischen auf
sechs CDs angewachsen ist (und fortgeführt werden soll). Mit
sieben ihm vorbehaltenen Werk-CDs ist Döhl also sehr gut im
Tonträger-Katalog vertreten, weit besser als die meisten seiner
komponierenden Kollegen heute, von einigen Galionsfiguren der modernen
deutschen Musikszene abgesehen. Wie aber kann sich Döhl mit
der auf den CDs getroffenen Werkauswahl präsentieren, wie umfassend
oder ausschnitthaft materialisiert er sich für denjenigen,
der mit seiner Musik bisher noch nicht in Verbindung gekommen ist?
Bei solchen nicht speziell produzierten Serien selektiven Charakters
spielen die Verfügbarkeit von Aufnahmen, ihr künstlerischer
und technischer Standard, Veröffentlichungs-Zustimmungen von
Interpreten und Rundfunkanstalten et cetera eine Rolle. Wesentlich
darauf (und nicht nur auf persönlicher Auswahl) basiert bei
den CD-Veröffentlichungen von Neuer Musik heute das Editions-Ergebnis.
Auch in der Beziehung kann man für Döhl Positiva registrieren.
Unter Berücksichtigung der genannten Faktoren lässt sich
sagen, dass in der Döhl-Edition verständlicherweise nicht
seine komplette Werk-Palette vorliegt, aber dafür, vielfältig-differenziert
und somit überzeugend kombiniert, in einer gelungenen Auswahl
das dokumentiert wird, was Döhl – nahezu seit Studienzeiten
– kompositorisch zum Ausdruck gebracht hat. Der gelungene
Überblick dürfte sich noch verdichten und präzisieren,
wenn weitere CDs die Reihe fortgesetzt haben werden.
Die sechs CDs der Dreyer.Gaido-Serie sind nach den komponierten
Darstellungsformen der Musik Döhls programmiert. Das erweist
sich nach dem Höreindruck als sinnvoller, als wenn man der
Chronologie der Werkentstehung gefolgt wäre. So werden zusammengefasst
Klaviermusik; Klaviermusik für offenen Flügel (was auf
die Wiedergabe der Musik auf Tastatur und Saitenbezug verweist);
Liedkompositionen mit Klavier; Gesänge und Mikrodramen (begleitet
von gemischten Ensembles); symphonische Musik mit Soloinstrumenten.
Nur die erste CD der Serie hebt auf Thematisches ab: Ein Klavierzyklus
und ein Streichquintett sind um Schuberts Winterreise zentriert
(der Schubert/Müller-Titel bedeutet Döhl symbolisch das
Leben in und um uns); einem Streichquartett liegen Natureindrücke
aus Schottland zugrunde; ein Duo für Akkordeon und Kontrabass
imaginiert eine Nachtszene.
Friedhelm Döhls musikalische Poetik basiert auf tradierten
wie progressiv-experimentellen Arbeits-Verfahren, und sie weicht
auch Extrempositionen bis hin zur Banalkarikatur in Collage-Studien
nicht aus. Das hat Döhls spezifischen Motivationstrieb, gewonnen
aus Anregungen, wie Lyrik und Dramatik sie offenbaren, geprägt.
Stichworte für diese Richtung der motivatorischen Selbstabsicherung
– Döhl ist ein stark literarisch orientierter Komponist
– sind Namen wie Hölde-rlin, Trakl, Kafka, Hans Henny
Jahnn, Celan, Becket. Sie besetzen Döhl nicht nur mit ihren
differenziert ausgearbeiteten dichterischen Vorlagen, die er klanglich
eingefasst hat, sondern sie haben ihn auch zu reinen Instrumentalstücken
inspiriert.
Und in der klanglichen Sphäre ist es Gustav Mahlers Konzeption,
zu der er sich bekennt, und immer wieder Schubert, der ihn gleichsam
zwanghaft anzieht. Das beweisen zentrale Zitate Schuberts, aber
auch persönlich gestaltete Allusionen, die gleichsam ahnungsvoll
Quasi-Bezüge auslösen.
Stationen eines Komponistenlebens, wenn man sich auf solche Rubrizierung
einlassen will, werden durch die Inhalte der sechs beziehungsweise
sieben CDs nicht so strikt reflektiert, wie man das erwarten könnte.
Denn Döhls Kompositionsästhetik, zu Anfang seiner Laufbahn
noch mit eingängigen Harmoniestrecken durchsetzt (wie in den
Trakl-Liedern von 1956), wandelte sich nach einer durchlebten Erfahrung
mit Anton Webern (samt ihrem theoretischen Niederschlag in seiner
Dissertation 1966) und erfuhr ab den späten 60ern auch immer
wieder Verschleifungen zwischen scheinbar Abgeschlossenem und Zukünftigem.
Die Endgültigkeit von Kompositions-Ergebnissen relativierte
sich: Döhl griff nicht selten Kompositionen nach Zeiten wieder
auf und revidierte sie. Seine Arbeitsästhetik überbrückte
denkbare Zäsuren und Stationen, sie garantierte ihm Stil und
persönlich geprägte Ausdrucksmuster.
Den Aufbruch in Neuland mit authentischem Ergebnis bildeten wohl
die Hölderlin-Fragmente „ …warum aber…“.
Eine einschneidende Markierung, in eindrucksvollen Realisationen
verdeutlicht, stellen, mehr noch als der Medea-Monolog, die „Szene
über einen kleinen Tod“ und zwei Mikrodramen dar: das
bis in die schiere Ironie getriebene „A & O“ (für
einen Sprecher selbviert, wie der Titelzusatz lautet) und „Anna
K/Informationen über einen Leichenfund“ (mit der unausgesprochenen
Anspielung auf Kafkas Josef K. und dem ratlosen Austritt aus dem,
was Handlung zu nennen kaum zulässt).
Friedhelm Döhls Umgang mit der Charakteristik des Sinfonischen
stellt sich nach reinem Höreindruck auf direktere Art in Richtung
Wirkungsdichte mit unverschleiertem Blick ins Tradierte dar. Die
drei Kompositionen, die das resümieren (was auf zwei der sieben
CDs nachzuvollziehen ist), sind das Cellokonzert (mit dem Untertitel
„wie im Versuch, wieder Sprache zu gewinnen“) von 1980/81,
das Klavierkonzert (benannt als „Sommerreise“) von 1996/97
und die fürs hundert Jahre alte Lübecker Orchester entstandene
Symphonie von 1998 – mit ihren sieben Sätzen ein Mahler-Nachklang
ohne zitierende Anklänge, aber von spürbarer Verpflichtungshaltung
getragen).
Das Label Dreyer.Gaido hat, so könnte es scheinen, mit seinen
sechs Döhl-CDs auf den siebzigsten Geburtstag des Komponisten
hingearbeitet, ihn so geehrt und ganz praktisch eine Informationslücke
geschlossen. Döhl hat sich als Romantiker bekannt, Romantiker
nicht im Sinne einer epochalen Begrenztheit, sondern mit der Vergewisserung
eines Selbst-Suchers im Spurenvorrat der Vergangenheit, um mit seiner
Musik Antworten darauf zu finden.
Döhls Komponieren werde zur ars quaerendi, hat Peter Becker
formuliert. Die Döhl-CD-Edition von Dreyer.Gaido dokumentiert
diesen skeptischen Ansatz des Komponisten und ermöglicht den
teilnehmenden Nachvollzug durch viele. Friedhelm Döhl wird
dies als Geburtstagsgabe willkommen sein.