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nmz-archiv
nmz 2006/10 | Seite 39
55. Jahrgang | Oktober
Rezensionen
Neue Platten in windigen Zeiten
Hält der Oktober das Laub, wirbelt zu Weihnachten Staub
Das Jahr ist fast zu Ende. Phonotechnisch. Die ersten Kompilationen
kratzen schon an den Türen der Internetportale, die den Plattenladen
abgelöst haben. Bisher kein schlechtes Jahr. Gute Veröffentlichungen.
Wenig Makulatur. Wie auch. „Popstars“ hat erst begonnen.
Also befürchten wir obigen Leitsatz für Oktober. Was uns
für November schwant, könnte tatsächlich Staub, Müll
und Ausschuss werden. Ein letztes Mal freuen über interessante
Platten also nun:
Ein wirklich wunderbarer deutscher Sänger und Songschreiber
ist Ben Kaan. Stille ist sein Credo auf „Zuhause Wohnen/The
Extrovert Album“. Dahinperlende Akustikgitarren. Sanfte Melodien.
Brüchig, morsch und genial instabil von Ben Kaan vorgetragen.
Bedeutung haben diese Songs. Weite. Keine Tragweite. Aber im Sinne
von Erweiterung. Sicher Pop, das Ganze. Aber lyrischer. Im Herbst
kaufen. Kann für jeden ein neurotisches Album werden.
Eine Aufarbeitung, die man im Sinne der Kritik gar nicht einordnen
kann, uns aber erfreut, bildet Phillip Boa & The Voodooclub
mit dem „Boa Re-Mastered“-Reigen der Alben „Copperfield,
Hair und Hispanola“. Die wurden neu gebügelt. Trocken
geritten. Und posaunen somit faltenfrei im Ton beziehungsweise restauriert
im Klang. Zudem sind es natürlich schon die Phillip-Boa-Klassiker-Alben,
die uns da neu feilgeboten werden. Also eine Chance für die
Randgruppe. Die, die oft von Boa hörten, sich aber nie trauten.
Rockmusik, die ungelogen fair und solidarisch und ritterlich ist.
Seit Jahrzehnten.
Seit drei oder vier Jahren ist Quadro Nuevo die Definition für
Multikulti-Musik, Weltmusik oder Temperamentsmusik aus allen Teilen
Europas. „tango bitter sweet“, der aktuelle Beitrag
zur musikalischen Weltbetroffenheit, wartet dementsprechend völlig
unerwartet mit einem Durcheinander aus Flamenco, Tango, Emotion,
Balkan, Leichtigkeit oder Valse Musette auf. Mittlerweile ohne Zweifel
perfekt von Quadro Nuevo gespielt. Die Frage ist, ob Perfektionismus
nicht Spontaneität killt. Sie platt macht. Und damit das aktuelle
Album zu einem sehr guten macht, das aber einen fast verschwiegenen
Hang zur Routine aufweist.
Beachtenswert zeigt sich das Debutalbum des Norwegers Heine Totland.
Ein unverbrauchter Sänger, der auf „Tough Times for Gentlemen“
sogar noch Geduld, Muse und Zeit findet, ein Duett mit der Ehefrau
zu trällern. Heine Totland kennt zunächst mal den Begriff
Pop. Den aber vergilbt er mit schrägen Streichern, klassischen
Elementen, pflastert ihn mit pathetischen Klavieren zu oder schwelgt
ohne großes Aufsehen schlicht akustisch, leicht „jazzierend“.
Das Album fordert den Hörer. Verlangt Konzentration. Auch wenn
ihm mal Mainstream wie „Happy as I am“ ausrutscht. Sonst
durchwegs positiver Eindruck. Könnte aus Norwegen immer schlimmer
kommen.
Mit Sicherheit neben dem Papst das Comeback des Jahres: Level 42
stellen „Retroglide“ vor. Das erste Studioalbum der
Vorzeige-Popper. Mark King hat zwar nicht die alte Mannschaft versammelt,
dennoch ein fähiges Team auf die Beine gestellt. „Retroglide“
ist komplett durchgestylt. Leicht „sophisticated“. Knapp
vor der Borniertheit. Aber eben noch so sympathisch kompatibel,
dass gleich einige Nummern in Frage kommen, den Gassenhauer „Lessons
in Love“ endlich in den Höranstalten abzulösen.
Kein Ton wurde dem Zufall überlassen und so bleibt Level 42
was es immer war: korrekter Pop mit Musikstudenten- Charme.
Böse Menschen nennen Steely Dan Studiobastler. Andere schwelgen
von Künstlern, Dirigenten und Meistern der Soundcollagen. Jetzt
gibt’s die „Definitive Collection“ zum kollektiven
Rumnörgeln oder Abfeiern.
Sven Ferchow
Ben Kaan – Zuhause Wohnen/The Extrovert
Album (06.10.2006, Lamm Records)
Phillip Boa & The Voodooclub – Boa Remastered
(01.10.2006, Universal)
Quadro Nuevo – tango bitter sweet
(06.10.2006, GLM)
Heine Totland – Tough Times for Gentlemen
(20.10.2006, Edel)
Level 42 – Retroglide
(20.10.2006, Universal)
Steely Dan – The Definitive Collection
(29.09.2006, Mercury)